die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1984
Text # 197
Autor George Orwell/Peter Hall
Theater
Titel Animal Farm
Ensemble/Spielort Cottesloe Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Peter Hall
Uraufführung
Sendeinfo 1984.04.26/SWF Kultur aktuell/RB/WDR/SFB/SR/DW/ORF Wien (versch. Fassungen) 1984.04.27/SRG Basel 1984.04.29/DLF/Nachdruck: Darmstädter Echo (letzte Fassung)

Das Nationaltheater liefert seinen Beitrag zum Orwell-Jahr 1984 mit Peter Halls Dramatisierung des satirischen Romans ‘Die Farm der Tiere’, der den Untertitel des Werkes wörtlich genommen und es als Märchenspiel für kleine und große Kinder einstudiert hat, die Spaß daran haben, den Figuren der weithin bekannten, in den Schulen gelesenen, von Schülern aufgeführten, von Disney verfilmten Satire auf der Bühne eines professionellen Theaters wiederzubegegnen, jener Geschichte vom glorreichen Anfang und kläglichen Ende einer Revolution der Tiere, die ihren Ausbeuter, den Menschen, vom Hof verjagen und unter dem Motto ‘Alle Tiere sind gleich’ ihre Farm nach strikt demokratischen Regeln fortan selbst verwalten, bis die Schweine, deren höhere Intelligenz sie zu natürlichen Führern macht, die propagierte Idee des ‘Animalismus’ verraten und eine neue Diktatur einführen, in der es den übrigen Tieren nicht besser ergeht als vor ihrer Revolution.

Wer das satirische Märchen heute liest – oder in der weitgehend wortgetreu dem Originaltext folgenden Dramatisierung auf der Bühne des Cottesloe Theatre sieht – stellt zunächst mit Erstaunen fest, daß die 1945 veröffentlichte Fabel als politische Polemik nicht an Wirkung verloren hat. Die Analogien zur Geschichte der Sowjetunion, die den Anspruch erhob, den Sozialismus verwirklicht zu haben und sich doch nach der Befreiung vom zaristischen Joch zur reaktionären Tyrannei rückentwickelt hatte, sind so offensichtlich, daß der Text zur bloßen Maskerade geworden wäre, wenn nicht der Charme der Geschichte, die Ironie des Autors und die (typisch britische) Begabung zum Understatement ein Maß von literarischer Originalität gewonnen hätten, die auf bloße Dechiffrierung der einzelnen Vorgänge nicht länger angewiesen war.

Soweit die Geschichte als Satire wirken sollte, mußte sie freilich durchschaubar sein. Der Parabelcharakter zwang zur Vereinfachung und Überzeichnung von historischen Fakten und Ereignissen. Die bei der Dramatisierung des Textes unvermeidliche weitere Verkürzung und Raffung der Zusammenhänge macht deutlich, wo die Gefahren des Werkes liegen: daß es als Instrument des neuen kalten Krieges geeignet erscheint. In einem politischen Klima, in welchem anti-sowjetische Propaganda uns weniger vor der Gefahr einer gewaltsamen Sowjetisierung schützen, als uns jede Hoffnung auf die Verwirklichung wahrer Demokratie – Sozialismus, jene gefährliche Illusion naiver Utopisten, wie man uns sagt – austreiben zu wollen scheint, da ist Vorsicht geraten.

Wichtig und sehr aktuell bleibt der Text als vernichtende Kritik politischer Demagogie; unübertrefflich die Ironie des zum geflügelten Wort gewordenen Satzes, der die Perversion des sozialistischen Gleichheitsgedankens verhöhnt: “Alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher als andere“. Orwells ‘Animal Farm’ ist der Ausdruck von Bitterkeit eines Mannes, der sich um seinen Glauben an das Gute im Menschen betrogen fühlt, Resignation des enttäuschten Idealisten, das Plädoyer eines Liberalen für die Freiheit des Individuums, Warnung vor der großen Lüge, Sozialismus sei die Realität des Sowjetstaates. Die Zerstörung des sowjetischen Mythos, schreibt Orwell, sei die Voraussetzung für eine Erneuerung der sozialistischen Bewegung. Thesen, die uns weismachen wollen, daß eine menschenwürdige Gesellschaft zwar wünschenswert, doch nicht machbar sei, die menschliche Natur lasse Gerechtigkeit eben nicht zu, reden nur einem anderen Mythos das Wort.

Die theatralische Realisierung der Story ist denkbar einfach gelöst. Hall läßt einen kleinen Jungen in englischer Schuluniform auf die Bühne kommen und aus einem Bücherregal ein Buch entnehmen, aus dem er zu lesen beginnt: “Animal Farm – Ein Märchen von George Orwell”. Zu seinen Füßen erkennt man die buntfarbenen Spielzeuggebäude eines winzigen Bauernhofes, der Augenblicke später in vergrößerten Proportionen auf der Bühne erscheint. Der Junge übernimmt die Funktion des Erzählers, der die einzelnen Szenen durch Zwischentexte überbrückt.

Nach dem vor Jahren nur teilweise geglückten Experiment, die ‘Orestie’ des Aischylos nach altem Vorbild mit stark stilisierten Masken spielen zu lassen, setzt Regisseur Peter Hall mit ‘Animal Farm’ seine Arbeit im Bereich des Maskentheaters fort. Die Menschen im Stück treten mit abstoßend häßlichen, grotesken Halbmasken mit rosafarbenen Pauspacken und kleinen Augenhöhlen auf. Die Darsteller der Tiere erscheinen in schwarzen Trikots und Masken, die – mit Ausnahme der Schweine – über den ganzen Kopf gehen, was sie aller mimischen Möglichkeiten beraubt und beim Sprechen, trotz der kammerspielhaften Intimität des Cottesloe-Theaters, mitunter zum Handicap wird.

Pferde, Kühe und Esel schreiten auf kurzen Stelzen und krückenartigen Verlängerungen der Arme in der Form von Hufen, was ihre Bewegungsfähigkeit einschränkt, so daß die Aufführung, die, wohl aus didaktischen Gründen, nur in mäßigem Tempo läuft, streckenweise etwas statutarisch wirkt. Nur den Schweinen mit ihren beweglichen Halbmasken, die im Verlauf des Stückes immer mehr menschliche Züge anzunehmen scheinen, bis schließlich Napoleon und die ihm ergebenen Genossen gar auf zwei Beinen zu gehen versuchen, verbleiben in Mimik und Bewegung größere Ausdrucksmöglichkeiten; was sie (wie einer der Kritiker nachher treffend bemerkte) noch über Orwells Intention hinaus den anderen Tieren überlegen macht, die sich mit pantomimischen Mitteln begnügen müssen, während den Schweinen – und nur ihnen – die Möglichkeit zur Charakterdarstellung gegeben wird.

Die Hühner, die auf den Schultern ihrer Darsteller zu sitzen scheinen und als gefiederte Helmmasken getragen werden, haben ihre große Szene, wenn sie zur Abgabe ihrer Eier, aus denen ihre Nachkommen schlüpfen sollten, gezwungen werden: wenn plötzlich links und rechts auf dem Geländer der Galerie eine ganze Reihe von beweglichen Huhnattrappen erscheint und unter wild protestierendem Gegacker Eier auf die Bühne geworfen werden – bis der große Diktator dem opponierenden Federvieh Hungerrationen verschreibt, woraufhin nur noch tote Hühner wie weiße Sofakissen von oben herunterfallen.

Pater Hall hat den Hymnus ‘Beasts of England, beasts of Ireland’ vertonen und von dem Lyriker Adrian Mitchell sich eine Anzahl neuer Lieder dichten lassen, die die Handlung gelegentlich unterbrechen, wie das Lied der eitlen Stute Mollie, die ihre siebenundzwanzig bunten Bänder besingt, Boxers Loblied auf den erfolgreichen Windmühlenbau, die große ‘Animalismus’-Hymne, ein Duett mit dem Refrain “Das war es nicht, was wir wollten, als unser Aufstand begann“ und Napoleons clowneske Music-Hall-Nummer über den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des kleinsten Ferkels zum Herren über Leben und Tod der Tiere, der im Zuge der blutigen Säuberungen durch bloßes Erheben der Stimme seinen Polizeihunden zu verstehen gibt, daß sie ihr Opfer zerfleischen sollen.

Die Stimmung paradiesisch-idyllischen Glücks am Anfang des Stückes weicht allmählich der tiefen Enttäuschung, Angst und Hoffnungslosigkeit. Dabei mischt sich das Unbehagen, das sich beim Zuschauer einstellen soll, mit einem Unbehagen anderer Art, nämlich darüber, daß die Satire gegen volksverdummende Propaganda selbst für Propagandazwecke gebraucht werden kann und Orwells resignativen Pessimismus als der politischen Weisheit letzter Schluß suggerieren will – Skandalon für einen jeden, der davon durchdrungen ist, daß unsere Welt nicht bleiben darf, wie sie ist.

Die Londoner Kritiker lobten nach der Premiere Peter Halls Inszenierung, weil sie den Text George Orwells werkgetreu reproduziere, den Märchencharakter bewahrt und mithilfe des Maskenspiels und der musikalischen Einschübe die unzerstörbare alte Fabel aus der Sicht eines Kindes eindrucksvoll auf die Bühne gestellt habe.

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