die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1988
Text # 235
Autor Johann Wolfgang Goethe
Theater
Titel Faust I & II
Ensemble/Spielort Lyric Theatre Hammersmith/London
Inszenierung/Regie Robert David MacDonald/David Freeman
Hauptdarsteller Simon Callow/Peter Lindford
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1988.04.11/SWF Kultur ktuell/DLF/WDR/RIAS/SRG Basel

Beide Teile von Goethes ‘Faust’ vermutlich zum ersten Mal auf einer englischen Bühne – das ist, zunächst und vor allem, eine theaterhistorische Tat, die höchste Anerkennung verdient, auch wenn sie, wie hierzulande üblich, mit großer Verspätung eintritt. Was das Nationaltheater, das dazu den Auftrag, wie auch die nötigen Mittel besäße, bereits vor Jahren hätte besorgen müssen, hat nun ein Londoner Theater, das noch vor kurzem ums eigene Überleben bangen mußte, das Lyric Theatre (Hammersmith), auf sich genommen. Eine Reihe von Workshop-Veranstaltungen, Vorträgen, Seminaren, Konzerten, Puppenspielen und eine Ausstellung zum Faust-Thema unterstreichen die Bedeutung des Ereignisses.

Der für seine Verdienste um die deutsche Literatur im Ausland mit der Goethe-Medaille ausgezeichnete Direktor des Glasgower Citizens’ Theatre Robert David MacDonald hat eine neue englische Übersetzung des ‘Faust’ hergestellt und gemeinsam mit dem Opernregisseur David Freeeman die Inszenierung vorbereitet. Daß das ehrgeizige Vorhaben mit einem Ensemble von nur zwölf Schauspielern verwirklicht werden konnte, will angesichts der über hundert Rollen als geradezu unglaublich erscheinen. “Nach Goethes eigenen Worten gibt es keine Kunst ohne Beschränkung“, schreibt der Regisseur im Programmheft zur Aufführung. “Im Rahmen unserer beschränkten Mittel sind wir bemüht, den unerfüllbaren Anforderungen des Werkes gerecht zu werden, ohne sie zu vereinfachen oder zu schmälern“. Was dabei entstand, ist in mehr als einem Sinne bemerkenswert.

Zum ‘Vorspiel auf dem Theater’ versammeln sich die Darsteller leger gekleidet wie zu einer Probe auf der Vorderbühne und suchen im Gespräch mit Regisseur und Autor nach einer Antwort auf die Frage, was man “in schwierigen Zeiten“ vom Theater erwarte. Zum ‘Prolog im Himmel’ schweben Der Herr und die in buntfarbene Chiffontücher gehüllten Erzengel an dicken Seilen hernieder, während Mephisto sich ihnen von unten zu nähern versucht auf einer halbkreisförmig gewölbten Leiter, die Fausts Studierzimmer umgibt und wie ein stählerner Regenbogen, den man von beiden Seiten besteigen kann, bis zum Ende des Stückes die Szene beherrscht.

Der zunächst in ein lumpiges, erdfarbenes Kittelgewand gekleidete Faust wird in der Hexenküche in einen brodelnden Bottich gestoßen, dem er splitternackt als junger Mann entsteigt, der sich alsbald (bis auf zwei große Pausen gehen die Szenen fast ohne Zäsur ineinander über) in das hier ‘Grättschen’ genannte schwarzhaarige Mädchen verlieben und sie dadurch ins Unglück stürzen soll.

Schon für die phantastischen Bilder des zweiten Teils viel Gutes versprechend: die spektakuläre Walpurgisnachtszene, in welcher die Hexen und Geisterwesen auf einer riesigen Strickleiterwand, die wie ein gewaltiges Spinngewebe sich über die ganze Höhe und Breite der Bühne spannt, auf- und niedersteigen. Auch ihr Gegenstück, die klassische Walpurgisnacht im zweiten Teil, wo sich bei Fausts Ankunft in den Felsschluchten des Ägäischen Meeres die Bühne in einen exotischen Lustgarten verwandelt, in dessen Wasserspielen und gläsernen Teichen sich verführerisch schöne nackte Gestalten ergötzen, wird zu einem der vielen Coups de théȃtre, die dafür sorgen, daß die Aufführung auch in den Passagen des Stückes, die weitgehend rätselhaft bleiben, nichts von ihrer Faszination verliert.

Robert David MacDonalds Übertragung des Textes scheint in vielen Partien dem Wortlaut und Geist des Originals so nahe zu kommen, daß man zögert, ihr vorzuwerfen, sie klinge allzu prosaisch, gestatte sich hier und da vermeidbare Anachronismen und sei auch nicht ganz frei von folgenreichen Übersetzungsfehlern; wenn zum Beispiel die allegorische Gestalt Sorge (Sorrow) als Care (Fürsorge) auftritt und damit ihren Sinn verliert. Ebenso zögert man, der alles in allem bewundernswerten Inszenierung anzukreiden, daß einige der berühmtesten Textpassagen wie Fausts Monolog “Vom Eise befreit” oder die Schülerszenen gestrichen wurden und wichtige Nebenrollen wie Wagner und Marthe nur höchst unzureichend besetzt werden konnten.

Simon Callows Faust ist imponierend als geistige Autorität, wenn er den alten Gelehrten spielt oder mit langem, schlohweißem Bart wie Howard Hughes den greisen Magnaten und “reichsten Mann der Welt”, versagt aber völlig, wenn er, verjüngt, den leidenschaftlich Liebenden oder von Reue Verfolgten glaubhaft machen soll. Peter Lindfords Mephisto wird in beiden Teilen zur dominierenden Gestalt, ein Teufel, der nicht nur als sinnliches Mannsbild unwiderstehlich wirkt, sondern auch klarer und weiter denken zu können scheint, als menschliche Hoffnungsgläubigkeit sich träumen läßt.

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