die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 45
Autor Howard Brenton, David Hare, Snoo Wilson u.a.
Theater
Titel England’s Ireland
Ensemble/Spielort Portable Theatre Company/ Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie David Hare & Snoo Wilson
Uraufführung
Sendeinfo 1972.10.03/SWF Kultur aktuell 1972.10.04/ORF Wien & BBC German Service/Nachdruck: Darmstädter Echo

‘England’s Ireland’, ein Dokumentarstück über die Situation in Nordirland, ist wie eine Bombe eingeschlagen, freilich zunächst ohne die Wirkung, auf die es berechnet war. The Portable Theatre Company in London hatte sieben Autoren beauftragt, gemeinsam den Text zu liefern (darunter Horad Brenton, David Hare, Snoo Wilson u.a.). Die Inszenierung mit irischen Schauspielern beider Konfessionen und aus beiden Teilen des Landes wurde 54 englischen Bühnen zur Aufführung angeboten: Nur ein einziges Theater, das Royal Court Theatre, das seiner Subventionen allemal sicher ist, fand sich bereit, das brisante Stück in zwei Vorstellungen zu zeigen. (Inzwischen ist durch die vorzeitige Absetzung des Umweltschutz-Musicals ‘Mother Earth’ das Roundhouse frei geworden, wo ‘England’s Ireland’ nun also doch noch eine Woche lang dem englischen Publikum, für das es geschrieben und einstudiert wurde, vorgeführt werden kann).

Der Zufall wollte es, daß die Premiere im Royal Court Theatre am selben Tag stattfand, an dem die Menschenrechtskommission des Europarates einem Antrag der Republik Irland zustimmte, der eine Untersuchung der gegen Großbritannien erhobenen Vorwürfe über Folterungen bei Verhören, entwürdigende Strafen und Diskriminierung aus politischen Motiven in Ulster forderte.

‘England’s Ireland’ ist der zweite Versuch der Portable Theatre Company , ein Stück von einem Autorenkollektiv herzustellen. Das Resultat des ersten – 'Lay-By’, ein Szenarium über Pornographie, das im vergangenen Jahr im Open Space Theatre präsentiert wurde – war enttäuschend. Das neue Stück dagegen, über dessen Inhalt die Meinungen auseinandergehen, ist formal bewundernswert einheitlich, geradlinig konzipiert und in der Inszenierung der Mitautoren David Hare und Snoo Wilson theatralisch ungemein wirkungsvoll. Es geht von der Voraussetzung aus, daß die Situation in Nordirland nur vor dem Hintergrund von seit Generationen geübtem Unrecht und religiösem Fanatismus verstanden werden kann.

Der erste Teil rekapituliert in knappen szenischen Bildern die Entwicklung von den Anfängen der Bürgerrechtsbewegung, den ersten Überfall von Paisley-Anhängern auf einen friedlichen Demonstrationszug unter Führung von Bernadette Devlin im Januar 1969 auf einer Landstraße zwischen Belfast und Derry, wonach 87 Menschen ins Krankenhaus eingeliefert werden mußten; die Forderung der katholischen Minderheit nach kommunalem Wahlrecht (das in Nordirland nur Hauseigentümern zusteht), nach Entwaffnung der paramilitärischen protestantischen Polizei (den sogenannten B-Specials) sowie nach Abschaffung des Sondergesetzes, das die Verhaftung und Einkerkerung von Personen ohne Gerichtsverhandlung zuließ; die Folterung von Gefangenen bei Verhören; das sträfliche Desinteresse der britischen Regierung an den Vorgängen in der nordirischen Provinz; die Eskalation der Gewalt; die Unfähigkeit der Politiker in London, einen Bürgerkrieg in Irland zu verhindern; bis hin zu den chaotischen Zuständen von heute, über die die englische Öffentlichkeit mit Absicht nur unzureichend informiert wird.

Der zweite Teil des Stückes beschreibt die unheilvolle Rolle von Bigotterie, der faschistoiden Ideologie des protestantischen Geistlichen Ian Paisley auf der einen Seite, des Heroen- und Märtyrerkultes fanatisierter Diener der katholischen Kirche auf der anderen Seite. Für den ersten Teil steht der bezeichnende Satz: “In den vier Monaten vor Einführung der Internierungslager starben acht Menschen; in den vier Monaten danach einhundertvierzehn Menschen”. Für den zweiten Teil des Stückes, der auch ausführlich auf die Machtkämpfe im katholischen Lager eingeht, die Spaltung der IRA und den skrupellosen Fanatismus der Terroristen, ist der Satz bezeichnend: “Die erste wirklich revolutionäre Bombe wird in die Tore der eigenen Kirche geworfen werden“. Das Stück endet offen mit einer Serie von Fragen. Gegen den Ruf nach “Wiedereinführung normaler Verhältnisse“ heißt es: “Was ist normal? Ist eine Arbeitslosenziffer von 43% der Bevölkerung einer Stadt normal? Oder ist es normal, wenn 10% der Bevölkerung Englands 83% der Güter des Landes besitzen?”.

Die englische Presse reagierte auf derart unmißverständliche Fragen verständlicherweise je nach politischer Couleur: Die ‘Financial Times’, die sonst jede Theaterpremiere bespricht, überging das Ereignis mit demonstrativem Stillschweigen. Der ‘Daily Telegraph’ fand, es sei ein anti-britisches, anti-protestantisches, unfaires und geschmackloses Propagandastück. Der Kritiker der ‘Times’ nahm seine Zuflucht zur Formalanalyse und gab vor, nicht ganz zu verstehen, worauf die Autoren hinaus wollten. Der ‘Guardian’ warnte davor, die Riten der Freimaurergilden und die Gefährlichkeit des Demagogen Ian Paisley durch parodistische Darstellung zu verharmlosen, und riet, sich vor einseitiger Kritik zu hüten: das Stück vermeide freilich jede Art von billiger Propaganda und habe seine stärksten Momente gerade da, wo es die erschütternden statistischen Fakten für sich selbst sprechen lasse.

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