die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1981
Text # 155
Autor Stephen Lowe
Theater
Titel Touched
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie William Gaskill
Neuinszenierung
Sendeinfo 1981.01.22/DLF 1981.01.23/SWF Kultur aktuell/WDR/ORF Wien/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

Selten hat die britische Presse mit so einhelliger Begeisterung die Neuinszenierung eines Stückes begrüßt, das erst vor dreieinhalb Jahren uraufgeführt wurde, kurz in Edinburgh und London zu sehen war, doch dann wieder in der Versenkung verschwand. Dem Royal Court Theatre verdanken wir den Versuch einer Ehrenrettung des Werkes, obwohl sein Autor, der heute dreiunddreißigjährige Stephen Lowe, dafür seinerzeit den George-Devine-Preis erhielt. Es wurde gedruckt, wie man hört ins Deutsche übersetzt – und vergessen.

Mit dem Namen des Autors Stephen Lowe verbindet sich vor allem die Erinnerung an seine Dramatisierung der ‘Menschenfreunde mit den zerlumpten Hosen’ von Robert Tressell, des “ersten erfolgreichen Romans über das Leben der englischen Arbeiterklasse“, ein Dokument über die historischen Voraussetzungen und Grundlagen der britischen Klassengesellschaft. Die 1978 unter William Gaskills Regie von den Schauspielern der Joint Stock Theatre Group entwickelte Aufführung wurde zu einem Preislied auf die Würde der Arbeit, auf das trotz schlimmster Ausbeutung der Lohnabhängigen erhaltene Potential an Lebensmut, den Ethos von Männern, denen (im Jahre 1906) die Erfahrung dämmert, daß sie die Bedingungen, unter denen sie leben, nur ändern können, wenn sie zusammenhalten und das System selbst, das sie zu Arbeitssklaven macht, aus den Angeln heben.

‘Touched’ beleuchtet einen der historischen Augenblicke, an denen der Glaube an die reale Chance eines Neubeginns nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Hoffnung auf eine bessere Welt, schmerzlich enttäuscht wird. Das ein Jahr vor der Dramatisierung der ‘Menschenfreunde’ entstandene Stück deutet bereits an, wie die geschichtliche Entwicklung allzu optimistische Träume frustriert, Träume vom Fortschritt in Richtung auf eine menschenwürdige Gesellschaft, von der sich bis heute nur träumen läßt.

‘Touched’ spielt im Jahre 1945 in den hundert Tagen zwischen der Kapitulation der Deutschen und dem Sieg über die Japaner. Das Stück zeigt, wie die großen Ereignisse auf politischer Ebene das Schicksal dreier Schwestern bestimmen, die in einer Kleinstadt der Industrielandschaft Nottingham leben. Nach den Entbehrungen des siebenjährigen Krieges sehnt man sich nach neuen, glücklichen Zeiten. Betty, die Jüngste, träumt von einem Märchenprinzen, der sie entführen wird; Joan hofft, nach Kanada oder Australien auszuwandern; Sandra, die Älteste, ist davon überzeugt, daß “nach all den Übeln nun endlich Gutes folgen muß, sonst wäre doch alles sinnlos gewesen“: es ist der Glaube an den Beginn einer moralischen Erneuerung, die auch für den politischen Alltag gilt.

Der überwältigende Sieg der Labour-Partei über Churchill bei der ersten Wahl im Juli 1945 wird als Götterdämmerung des kapitalistischen Systems gedeutet. Doch die hundert Tage zwischen dem Sieg der Alliierten in Europa und dem in Asien genügen bereits, um die hohen Erwartungen im Blick auf die Zukunft gründlich zu enttäuschen. “Es ist“ (nach den Worten von Irving Wardle, dem Theaterkritiker der ‘Times’) “der Moment, in welchem das moderne Britannien seine jetzige klägliche Gestalt anzunehmen begann”.

Wie viele andere Frauen, wartet Sandra noch auf die Heimkehr ihres Mannes. Seit der Begegnung mit einem italienischen Kriegsgefangenen glaubt sie schwanger zu sein. Mutter, Schwestern und Nachbarn wenden sich von ihr ab, als sie verrät, von wem sie ein Kind erwartet, und darauf besteht, es zur Welt zu bringen, als Symbol für den Anbruch der neuen Zeit, in der man Leben schaffen wird, statt es zu zerstören.

Joan, die jüngere Schwester, erklärt sie für “touched”, ein Wort, das hier die doppelte Bedeutung von ‘sexuell berührt’ und ‘seelisch angeschlagen’ hat. Als sich herausstellt, daß Sandras Schwangerschaft bloß eingebildet ist, steht dies zugleich als Hinweis darauf, daß auch die Hoffnung auf politische Erneuerung des Landes nur eine Illusion war. Fünfunddreißig Jahre später wird jeder wissen, daß man die Chance verpaßte.

Michael Billington nennt das Stück im ‘Guardian’ ein “herrlich geschriebenes Werk, das zwischen der privaten und der öffentlichen Welt mühelos eine Verbindung herstellt“, “ein Stück über England selbst und einen kurzen trügerischen Augenblick von Nachkriegsoptimismus ... Das Stück und seine Inszenierung (von William Gaskill) treffen mit absoluter Sicherheit die Stimmung der Zeit ... Die Darstellung ist superb”. – Irving Wardle nennt sie “atemberaubend wahrhaftig“: “Integrität ist die herausragende Eigenschaft des Textes wie seiner Inszenierung“. – Und die Zeitschrift ‘Time Out’ resümiert: “Eine Wiederentdeckung zur rechten Zeit – nicht nur, weil es um ein sehr gutes Theaterstück geht, sondern weil es heilsam sein mag, uns an die Vision von einem Wohlfahrtsstaat zu erinnern, dem der Thatcherismus heute den Garaus zu machen versucht”.

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