die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1984
Text # 193
Autor Ernst Toller/Ivan Goll
Theater
Titel Hinkemann/Methusalem
Ensemble/Spielort Upstream Theatre/Bloomsbury Theatre/London
Inszenierung/Regie Giles Croft/Michael Rennison
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1984.03.16/SWF Kultur aktuell/DLF/SR/SFB/SRG Basel

Wenn expressionistische Bühnenstücke schon auf deutschen Theatern kaum noch gespielt und ihre Autoren so gut wie vergessen sind, darf es nicht wundern, daß man auf der britischen Insel, wo selbst der gebildete Bürger nur selten Gelegenheit sucht oder findet, von der Existenz literarischer Werke, die wir der Ära des deutschen Expressionismus zurechnen, schlechthin nichts weiß. Daß sich das Ballet Rambert, eines der großen Londoner Tanztheater, für sein während des letzten Edinburgh Festival uraufgeführtes neues Ballett Oskar Kokoschkas Bühnengedicht ‘Hoffnung, Mörder der Frauen’ als Libretto wählte und dabei den Text der englischen Übersetzung ungekürzt sprechen ließ, mochte ein Zufall gewesen sein, der für das Schwerpunktthema des schottischen Festivals ‘Wien um 1900’ gerade wie gerufen kam. Ganz unabhängig davon brachte zur selben Zeit eine der Gruppen im Edinburgh Festival Fringe Kokoschkas Szenarium ‘Der brennende Busch’ auf die Bühne. Ein kleines Gasthaustheater im Londoner Westen machte im gleichen Jahr mit Brechts ‘Trommeln in der Nacht’ bekannt. Und in diesen Wochen erleben wir in London die britische Erstaufführung zweier Stücke des Jahres 1922, deren Autoren Ernst Toller und Ivan Goll – trotz aller Verschiedenheit (und es fällt auf den ersten Blick schwer, überhaupt Verwandtes zu entdecken) – als typische Repräsentanten ihrer Zeit und des expressionistischen Theaters gelten. Tollers Tragödie ‘Hinkemann’ hatte im Upstream Theatre Premiere; das Bloomsbury Theatre stellte Ivan Golls satirisches Drama ‘Methusalem’ vor.

‘Hinkemann’ wirkt wie der verzweifelt pessimistische Epilog zu Krieg und Revolution, die den jungen Ernst Toller, der das Stück während seiner fünfjährigen Festungshaft schrieb, prägten und ihn, wie die Titelgestalt, als pathetisch-tragische Figur enden ließen. “So sind die Menschen“, murmelt Hinkemann, der Krüppel, dem man an der Front das Geschlecht weggeschossen hat, “so sind die Menschen ... und könnten anders sein, wenn sie wollten. Aber sie wollen nicht. Sie steinigen den Geist, sie höhnen ihn, sie schänden das Leben, sie kreuzigen es ... immer und immer wieder ... Wie ist das sinnlos!”. Und wie Hinkemann, der vor der Sinnlosigkeit seines Daseins zusammenbricht, gibt sich der Autor Ernst Toller einige Jahre danach selbst den Tod.

Die Londoner Inszenierung von Giles Croft zeigt Hinkemann wie einen Woyzeck des frühen 20. Jahrhunderts, einen Mann, der zuviel Elend gesehen hat und daran krepiert, einen Gequälten, von Stimmen und Schreckbildern Gehetzten, einen Gefangenen, Opfer seiner seelenlosen Zeit. Doch anders als Woyzeck, teilt Hinkemann sich in einer pathetisch überladenen, für einen Proletarier seines Schlages schier undenkbaren Sprache mit, die jede Aufführung des Stückes vor Probleme stellt und auch der Londoner Inszenierung letztlich zum Verhängnis wird. Mit dem Mut der Verzweiflung hat man versucht, sich ins schrill Ekstatische zu retten, in einen veräußerlichten, formal-expressionistischen Stil, der eintönig und deklamatorisch wirkt und so das Auszudrückende verstellt. Die Londoner Kritiker erkannten die unübersehbaren Parallelen zu Büchners ‘Woyzeck’ und sprachen von der “Wiederentdeckung eines kaum bekannten Klassikers“, einer “gewaltigen theatralischen Vision“ , dem “Bild der Impotenz einer Nation nach einem (verlorenen) Krieg”.

Michael Rennison, der Regisseur des ’Methusalem’, erzählte mir nach der Premiere, daß er seit der Zusammenarbeit mit Goetz Friedrich bei der Londoner Inszenierung der Oper ‘Lulu’ sich mit wachsender Begeisterung dem deutschen Expressionismus gewidmet und schließlich in Golls ‘Methusalem’ eines der wenigen wirklich komischen Stücke jener Epoche gefunden habe. Rennison, der an der Londoner Slade School of Fine Art unterrichtet, konnte eine Gruppe von Absolventen der Bühnenbild- und Kostümklasse als Designer gewinnen (und von der Gulbenkian-Stiftung und dem Londoner Goethe-Institut die zur Verwirklichung des Projekts nötigen Gelder). Der junge englische Komponist George Benjamin schrieb eine Bühnenmusik zum Stück, man engagierte acht Schauspieler, sieben Musiker und eine Handvoll Statisten, fand ein Theater und fügte Text, Musik, die gefilmten Szenen, Bühnenbauten und Kostüme zur abenteuerlich farbigen, phantasievollen, hintergründig komischen Groteske über den ‘ewigen Bürger’, den Schmarotzer Methusalem; eine Inszenierung, die Ivan Goll als echten Vorläufer des Theaters des Absurden ausweist, einen nahen Verwandten von Jarry und Ionesco, Bunuel und Cocteau und dem Autor der ‘Wünsche, die man am Schwanze packt’ Pablo Picasso, den Vorvätern der britischen Monty-Python-Tradition.

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