Alle Jahre wieder, bevor der große Trubel beginnt, werden dieselben Fragen gestellt: nach Sinn, Bedeutung und Nutzen des Festivals und ob die schon lange nicht mehr überschaubare Fülle des Programmangebots (weit über dreizehntausend Veranstaltungen in drei bis vier Wochen) nicht dazu geführt habe, daß wir auf das einzelne Ereignis kaum noch angemessen reagieren können und darum das, was Kunst in uns bewirken kann, an uns verloren geht.
Weil für die meisten Besucher der Festivalstadt in dieser Hinsicht der kritische Punkt längst überschritten scheint und höchstens die Frage nach dem Unterhaltungswert für sie noch eine Rolle spielt – was sie an Edinburg anzieht, ist das soziale Ereignis, die Party-Stimmung einer Stadt, die sich im Rausch ihres Festivals selbst nicht wieder erkennt – kommt sich der Kritiker, der seine Aufgabe ernst nimmt, in einer solchen Situation fast wie ein Spielverderber vor.
Der 1982 für seine Verdienste für die deutsche Literatur mit der Goethemedaille ausgezeichnete Autor, Dramaturg und Regisseur Robert David MacDonald ist unter seinen britischen Landsleuten so etwas wie ein weißer Rabe. Zu den 68 Stücken, die er aus zehn Sprachen ins Englische übertrug, gehören auch die in vergangenen Jahren in Edinburg vorgestellten ‘Letzten Tage der Menschheit’ von Karl Kraus und ‘Die Soldaten’ von Jacob Michael Reinhold Lenz. Die erste Woche des diesjährigen Festivals brachte die Neuinszenierung von Goethes ‘Tasso’ in der freien Übertragung und unter der Regie von Robert David MacDonald.
Was dabei herauskam, ist eine Aufführung, die nur durch ihr klassizistisches Bühnenbild und die Namen der Personen noch Ähnlichkeit hat mit dem, was wir mit dem uns seit Schülertagen bekannten Werk verbinden. MacDonald hat den klassischen Text ohne Scheu vor sprachlichen Anachronismen in ein modernes Englisch übertragen, hat die Handlung in die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts verlagert und läßt die Darsteller in einer Tonart sprechen, als handle es sich um ein modernes englisches Konversationsstück. Aus dem italienischen Renaissanceprinzen Alfonso ist ein verspielter, in seiner flapsigen Arroganz, seinen Eitelkeiten und Manierismen unverkennbar englischer Aristokrat geworden; aus Tasso ein ebenso eindeutig englisch wirkender junger Intellektueller mit schmaler Goldrandbrille, ein unreifer Jüngling, der vor lauter Verlegenheit nicht weiß, wie er die Füße setzen soll, und dessen Ausfälle gegen seinen ihm haushoch überlegenen Gegenspieler Antonio wie sein Liebeswerben um die Prinzessin geradezu kindisch und lächerlich wirken.
Statt des stilisierten, zerebralen klassischen Dramas wird uns ein realistisch-psychologisierendes modernes Kammerspiel dargeboten. Und das am englischen Theater so beliebte rasende Tempo, in dem die Texte gesprochen werden, sorgt dafür, daß viel vom Sinn des Gesagten einfach verloren geht. Man durfte sich also nicht wundern, daß die britischen Kritiker, von denen die meisten das Stück nicht zu kennen schienen, mit diesem deutschen Klassiker im modernen Gewand recht wenig anzufangen wußten.
Viel weniger verständlich war dagegen, daß einige von ihnen Peter Zadeks Berliner Inszenierung von ‘Antonius und Cleopatra’ als “packend”, “witzig“, gar “intelligent” und – was ihnen falsch daran erschien – als “Erbe des Brechtschen Theaterstils” mißverstanden, statt den prätentiösen, dilettantischen Schwachsinn unisono in Grund und Boden zu verdonnern. Der Kritiker des ‘Glasgow Herald’ hatte den Mut zu sagen, was viele empfunden haben mußten: “Zadeks mißmutige Arroganz teilt sich der Inszenierung selber mit”. Die Aufführung wirke bleiern und wichtigtuerisch, und wer nicht zwischendurch die Flucht ergriffen und bis zum bitteren Ende ausgeharrt habe, sei dafür “mit dem wahrscheinlich langatmigsten Finale des klassischen Theaters“ belohnt worden, dessen (so wörtlich) “quälend schwerfällige Ausführung einen Rekord an zugemuteter Langeweile aufgestellt” haben müsse.
Die mit Spannung erwartete Uraufführung des ersten Teils der Trilogie ‘Die sieben Ströme des Flusses Ota’ von dem französisch-kanadischen Regisseur Rober Lepage erwies sich als ein aus der Improvisation entwickeltes ‘work in progress’, an dem das Ensemble zwar schon seit Januar arbeitet, das aber noch immer so unfertig erscheint, daß man sich ein abschließendes Urteil darüber zu diesem Zeitpunkt versagen muß. Es ist der Versuch, das Schicksal einer tschechischen Jüdin, die das Konzentrationslager überlebt und sich nach langer Odyssee in Hiroshima niederläßt, als Inbegriff aller Leiden dieses Jahrhunderts zu verstehen, sowie als Symbol für den Mut zum Leben.
Durch die extrem verschiedenen Stile – japanisches Puppentheater; realistische, symbolische, surreale, grotesk-komische Szenen; Theater-im-Theater und Sex-Komödie – wollen sich die einzelnen Teile noch nicht zu einem Ganzen fügen. Dafür wird man Zeuge eines Arbeitsprozesses, erlebt die Entstehung einer Inszenierung, die faszinierende szenische Bilder enthält und, wenn es gelingt, die formalen Probleme zu lösen und uns zu zeigen, wie die sieben Ströme, die unter der Stadt Hiroshima fließen, zum Fluß Ota sich vereinen, viel Gutes verspricht.