“Was für ein Stück!”. Und da schütteln sie die Köpfe, die feinen Bürgersleut, Damen und Herren der halbgebildeten besseren Kreise, die sich im Hampstead Theatre ein Stelldichein geben. “Ein scheußliches Stück, nicht wahr?!”. Und trotzdem, sagen sie, mochten sie es, fanden es gut, irgendwie, und wissen nicht warum.
Denn ‘Buried Child’ (Begrabenes Kind) von Sam Shepard gibt sein Geheimnis nicht preis. Darin dem Besten vergleichbar, den Werken Becketts und einigen Stücken von Pinter, gibt es unlösbare Rätsel auf. Die Vorstellung einer Realität aus festen Gegebenheiten versagt, die Regeln der Logik, des uns vertrauten Orientierungssystems, das in Alternativen von Entweder-Oder denkt, sind unbrauchbar geworden. Worauf es ankommt, läßt sich nicht mehr als ein definitiv Gegebenes finden, sondern stellt sich im Akt der Begegnung aus der Vorstellungskraft des Empfängers ein.
Da geht es also um eine Familie, Farmersleute, irgendwo in Nordamerika. Der Vater liegt krank auf dem Sofa, abgewirtschaftet, kaum bewegungsfähig. Vom ersten Stock des Hauses tönt die keifende Stimme einer Frau: “Wie ist es da unten?“ – “Katastrophal“, erwidert der Alte, verlangt nach einem Glas Wasser. Da sei doch Tilden, sagt die Stimme von oben, der Sohn, gleich nebenan in der Küche. “Ach was”, sagt der Alte, “der ist in Neumexiko”. Doch dann tut sich die Küchentür auf und da ist Tilden, der Sohn, mit einem Arm voll Mais. “Hier gibt es doch keinen Mais”, meint der Vater, “seit über 45 Jahren”. “Oh doch”, sagt der Sohn, “auf dem Feld, direkt vor der Tür, soweit das Auge reicht“. “Es geschehen Dinge, während du da oben bist“, ruft der Alte in Richtung der weiblichen Stimme, die nun auf der Treppe erscheint. Man beschimpft einander, und sie verläßt das Haus.
Und dann die Ankunft des Enkels, der mit seiner Freundin Shelley nach sechs Jahren zurückkehrt und die eigene Kindheit wiederzufinden hofft an Orten, die längst vergessen, doch so vertraut geblieben sind, als bewahrten sie das Geheimnis des eigenen Ich.
Aber dies ist kein gewöhnliches Haus mit gewöhnlichen Menschen. Es ist ein gespenstischer Ort, an dem der Geist der Kindheit begraben liegt wie die Leiche eines Babys, das man ertränkte und dann im Acker verscharrte. Das Mädchen versucht, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Sie hört von einem Verbrechen. Da gab es irgendwann ein Kind, Resultat eines Seitensprungs, das der Großvater tötete. “Es mußte sterben“, erklärte er, “damit unsere Welt nicht aus den Fugen ging”.
Der Alte vermacht dem Enkel Haus und Hof und was ihm sonst noch gehört, und Vince erinnert sich, daß er beim Blick in den Spiegel das Gesicht seines Vaters sah, das sich in das Gesicht des Großvaters verwandelte, und so immer fort, die ganze Ahnenreihe hinab bis auf den Ursprung der Familie im Staate Iowa. Vince weiß auf einmal, daß er das Erbe übernehmen wird, letztes Glied einer Kette. Und er beschließt zu bleiben.
Shepards Stück zeigt Menschen, die fast autistisch nebeneinander leben, abgeschnitten selbst von der eigenen Vergangenheit und ohne Hoffnung auf eine Zukunft .‘Buried Child’ ist ein kunstvoll gebautes Vexierbild, das uns nach einer Auflösung der Paradoxe suchen läßt, einem Bedeutungsgehalt, der im Stück selbst nicht ausgeschrieben ist und sich nur der spontanen Phantasie des Betrachters erschließt.
Nancy Mecklers karge, klare, stille Inszenierung erinnert an die eisige Poesie surrealistischer Bilder, an Becketts Endzeitstimmung und Caryl Churchills grandioses Verwirrspiel ‘Traps’ (Fallen), das die Regisseurin vor einigen Jahren mit ähnlicher Brillianz zur Aufführung brachte.
Einige der besten Schauspieler der jüngeren Generation – Julie Covington, Stephen Rae, Neil Johnston, Philipp Davis, Marty Cruickshank, John Rogan und Tony Rohr – machen die britische Premiere des hintergründigen Kammerspiels, das mit schauriger Pointe endet, zum ungewöhnlich eindrucksvollen Erlebnis.