die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1979
Text # 320
Autor Barrie Keeffe
Theater
Titel SUS
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Sendeinfo 1979.10.09/SWF Kultur aktuell/RB/SRG Basel 1979.10.11/WDR Berlin 1979.12.06/Darmstädter Echo

“Das ist ein Albtraum; so etwas kann nicht geschehen in England“. – “Sind Sie eigentlich ein politischer Mensch?“ – “Noch gestern hätte ich nein gesagt; doch heute beginnt etwas Neues”.

Ein Satz und eine Replik; zwei entscheidende Passagen aus Barrie Keeffes jüngstem Stück mit dem Titel ‘SUS’, das nach seiner Uraufführung im winzigen Kellertheater Soho Poly nun im Theatre Upstairs des Royal-Court-Theaters einem größeren Publikum vorgestellt wird. ‘SUS’ ist ein politisches Schauspiel besonderer Art. Wie viele der neueren Texte britischer Theaterautoren nimmt es unmittelbar Bezug auf aktuelle politisch-soziale Gegebenheiten, stellt einen Sachverhalt dar und fordert auf zur Kritik.

Es ist Donnerstag, der 3. Mai 1979, die Nacht nach den Wahlen zum britischen Unterhaus. Man wartet auf die Ergebnisse, die darüber entscheiden werden, ob die Regierung der Labour Party sich halten wird oder den Konservativen mit ihrer ‘eisernen Lady’ weichen muß. Die Polizei hat einen jungen Schwarzen aufgegriffen, “auf Verdacht”, so scheint es, Suspicion, kurz ‘SUS’. Ein Vorfall wie tausend andere, der sich tagtäglich ereignen könnte. SUS ist das Symbol für einen Artikel aus dem Gesetz gegen Landstreicherei des Jahres 1824 und für seinen Mißbrauch durch die staatlichen ‘Hüter der Ordnung’, denen es Vollmacht gibt, Personen, die (wie es heißt) “durch Herumlungern den Verdacht erregen, eine strafbare Handlung begehen zu wollen“, ohne weiteres zu verhaften und zu verhören.

Die Beschwerden über Ausschreitungen der Polizei haben sich in den letzten Jahren gehäuft. Und da immer deutlicher wurde, daß sich die Festnahmen auf Verdacht vor allem gegen Schwarze und Asiaten richteten, lag der Gedanke nahe, daß es einen Zusammenhang geben könne zwischen der systematischen Jagd auf schwarze Jugendliche in den Straßen der großen Städte, dem besonders brutalen Einschreiten der Polizei bei Demonstrationen gegen Veranstaltungen der neofaschistischen ‘Nationalen Front’ und der oft vertretenen Ansicht, daß sch die neue Nazi-Bewegung in Kreisen der Polizei gewisser Sympathien erfreue. Es kam zu öffentlichen Aufrufen und mehreren Anfragen im Parlament, die auf die Abschaffung des ominösen Gesetzesartikels drängten, dessen Anwendung – wie viele glauben – das friedliche Zusammenleben der Menschen verschiedener Rassen stört und unter den Farbigen zu Mißtrauen, Furcht und Haß gegenüber den Ordnungshütern geführt hat.

Barrie Keeffes Dreipersonenstück zeigt, wie das aus der Zeit nach den napoleonischen Kriegen stammende Gesetz zum extremen Beispiel für den Mißbrauch der polizeilichen Machtbefugnisse werden kann. Die Wirkung des Stückes ist umso stärker, als es der Gefahr der Schwarz-Weiß-Malerei geschickt aus dem Weg geht. Delroy, der junge Schwarze, meint, daß er wieder einmal Opfer der ‘SUS’-Exzesse geworden sei. Er weiß, daß es in solchem Fall darauf ankommt, Ruhe zu bewahren und sich nicht provozieren zu lassen. Er sitzt in der Falle und kennt die Regeln. Vor Gericht würde die Aussage zweier Polizisten, daß sich der Festgenommene verdächtig verhalten habe, genügen, um eine Verhaftung zu rechtfertigen. Gegen den alten juristischen Grundsatz, daß man einem Beschuldigten die ihm vorgeworfene Missetat nachweisen müsse, wird hier, wo es sich nicht einmal um den Versuch handelt, eine Straftat zu begehen, sondern um den bloßen Verdacht, daß ein solcher Versuch womöglich geplant worden sei, dem Betroffenen zugemutet, seine eigene Unschuld zu beweisen.

Mit Entsetzen erfährt Delroy, daß seine hochschwangere Frau blutüberströmt aufgefunden worden ist, während er mit Freunden im Gasthaus saß, daß die Umstände auf einen stümperhaft ausgeführten Abtreibungsversuch schließen lassen und er, der Ehemann und Vater dreier Kinder ohne festes Einkommen, nun unter Mordverdacht steht.

Das unmenschliche Verhör, dem Delroy ausgesetzt wird, endet abrupt mit der ärztlichen Meldung, man habe sich geirrt, Delroy sei unschuldig, da seine Frau an einer schrecklichen Frühgeburt gestorben sein müsse. Bevor man den übel traktierten Mann entläßt, wird ihm geraten, den Vorfall nicht an die große Glocke zu hängen, da man ihm jederzeit nachweisen könne, daß er “nur auf der Basis von SUS” festgenommen und verhört worden sei.

Die Konfrontation mit einem Fall, der im Rahmen der Auseinandersetzungen um den berüchtigten Paragraphen untypisch ist, man sich auf den Mißbrauch des fragwürdigen Gesetzes als der normalen, harmlosen Praxis berufen und ihn gar als Alibi für das rechtmäßige Vorgehen der Beamten benutzen kann, gibt der Kritik die bösartige, ironische Pointe. Ein brillanter, dramaturgischer Einfall in einem bemerkenswert dichten, spannenden Theaterstück zu einem brisanten Thema; eine Aufführung, die, weil sie sich jede Effekthascherei versagt, unter die Haut geht.

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