die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 316
Ausstellung
Ensemble/Spielort Tate Gallery/London
Sendeinfo 1978.03.09/ORF Wien 1978.03.10/SFB Feuilleton/Nachdruck: Darmstädter Echo

“Was ich einem Idioten deutlich machen kann, verdient mein Interesse nicht“, erklärte William Blake einst einem Pfarrer, der über die Schwerverständlichkeit seiner Bilder klagte. Dem armen Mann war damit sicher kaum geholfen, so wenig wie uns, den Leuten des 20. Jahrhunderts, damit gedient ist zu wissen, daß wir uns zunächst in Blakes fremdartige mythologische Gedankenwelt versenken müssen, um den Gehalt seiner Werke wirklich zu verstehen. Gäbe es nur diesen einen, sozusagen wissenschaftlichen Zugang, wäre William Blake in den letzten Jahren wohl kaum wieder so populär geworden.

Die Londoner Tate Gallery gibt bis zum 21. Mai Gelegenheit zu prüfen, ob die Neugier, die Blakes visionäre Kunst wecken will, uns in das Abenteuer der Entdeckung neuer Horizonte führt oder im Vorfeld tieferer Einsicht, noch vor den verschlossenen Toren göttlicher Erleuchtung von solchem Bemühen abläßt, um sich auf Linien, Farben und Formen zu konzentrieren, auf die Komposition von Bildern, deren innere Spannung sich überträgt, auch wo die Bildgehalte unverständlich sind.

Wo liegen die Schwierigkeiten im Verständnis der Werke William Blakes? Zunächst wohl bei seiner Themenwahl. Blake gestaltet eine imaginäre Welt, die dem Denken der Menschen von heute fremd ist. Hinzu kommt die Originalität einer künstlerischen Phantasie, die zwar gewisse Einflüsse ihrer Gegenwart und Vergangenheit aufgenommen, doch auf so eigenwillige Weise umgebildet und weiterentwickelt hat, daß selbst bekannt erscheinende Motive bei der Entzifferung der Botschaft des Autors nicht weiterhelfen. Und die größte Schwierigkeit: daß es bei Blake um bildlich poetische Darstellung komplexer Ideen geht, um mythologische Vorstellungen, die mit Verstand und Sinnen erfaßt werden wollen, spirituelle Brücken schlagen sollen.

Die soeben eröffnete große Blake-Ausstellung enthält über dreihundert Werke des Künstlers aus britischen, amerikanischen und australischen Sammlungen. Sie ist in deutlich erkennbare Einheiten gegliedert. Die den frühen Arbeiten der neo-klassizistischen Phase folgende Schaffensperiode weist bereits auf die erstaunlich vielseitige Begabung des Künstlers, der seine illuminierten Bücher selbst schreibt, illustriert und druckt. Höhepunkte der Ausstellung sind die Serie der großen Farbdrucke des Jahres 1795 (darunter die bekannten Bilder ‘Elohim erschafft Adam’, ‘Gott richtet Adam’, ‘Nebuchadnezzar’, ‘Newton’, ‘Hecate’ und ‘Das Haus des Todes’), die Wasserfarben-Illustrationen zur Bibel sowie die Illustrationen zu Dantes ‘Göttliche Komödie’ aus den letzten Lebensjahren des Künstlers (1824-27).

Selbst in dieser sorgfältigen Auswahl aus den (wie es heißt) besten Arbeiten Blakes fallen qualitative Unterschiede auf. Dabei wird deutlich, daß die künstlerisch bedeutendsten, originärsten, wirklich durchgestalteten Werke ganz unmittelbar ansprechen, selbst wo die mythologischen Inhalte nicht ohne weiteres durchschaubar sind, ein Eindruck, der den Gedanken nahelegt, daß die stärksten Bilder den besagten Schlüssel zur Entzifferung der Motive nicht unbedingt brauchen. An ihnen fasziniert die innere Dynamik und die Klarheit der graphischen Konzeption, die Dynamik der barocken Aufbauten schwebender oder stürzender Gestalten, der Wolken- und Flammengebilde, Spiralen und Wirbel sowie die kühne Komposition. Die Spannung des Konflikts zwischen Verstand und Imagination, Gesetz und Freiheit, Destruktion und Kreativität, Fluch und Erlösung – William Blakes Leitmotive – teilt sich mit aus der Kraft ihrer formalen Gestaltung. Selbst Bilder, die wegen ihrer klassizistischen oder romantizistischen Elemente zunächst weit abgelegen, unzeitgemäß und fremd erscheinen, ziehen den Betrachter, der sich auf sie einläßt und dabei die dynamischen Strukturen entdeckt, unwiderstehlich in sich hinein.

Und dies ist genau, was William Blakes Bildpoesie erreichen will. “Sein Ziel war es“, schreibt David Bindman in der ‘Sunday Times’, “die Neugier des Betrachters zu erregen und ihm zur Entdeckung der eigenen Imagination zu verhelfen und damit zur Erfahrung der göttlichen Wahrheit“.

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