die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1981
Text # 166
Autor Stephen Lowe
Theater
Titel Tibetan Inroads
Ensemble/Spielort Joint Stock Theatre Group/Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie William Gaskill
Uraufführung
Sendeinfo 1981.10.01/SWF Kultur aktuell/RB/DLF/WDR/ORF Wien 1981.10.03/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo

Kommunismus ist das Einfache, das schwer zu machen ist. Wenige der klassischen Sprüche haben sich so wie dieser als wahr erwiesen, klassisches Beispiel einer Definition, die hier so genau trifft, weil sie den Bruch zwischen Theorie und Praxis, Gedanke und Tat als Weg versteht, als uneingelöstes Versprechen, Utopie als Hoffnung auf das Erreichbare. Die Schwierigkeiten der künstlerischen Darstellung (wie die der politischen Praxis) gehören zur Sache selbst, die jedem Autor, der sich ihr stellt, zum Verhängnis zu werden droht, weil das berühmte Einfache – Kommunismus, die Idee einer wahrhaft menschenwürdigen Gesellschaft – eben ganz und gar nicht nur einfach ist und durch das Scheitern aller Versuche seiner Verwirklichung so in Verruf geriet, daß die einfach dargebotene Wahrheit als die Unwahrheit erscheint, Kommunismus als das Nicht-Machbare.

Unter den britischen Autoren, die sich der Sisyphusarbeit des mühseligen Unterscheidens im weiten Feld der politischen Möglichkeiten verschrieben haben, kommt Stephen Lowe eine Sonderrolle zu. Er nennt die Dinge beim Namen und scheint doch nicht überreden, zu bestimmten Einsichten bekehren zu wollen. Lowe stellt Menschen vor in ihrem gesellschaftlichen Kontext als soziale und unsoziale Wesen, die (so banal dies klingen mag, so selten) eine Seele haben. Ihre soziale Rolle mag verabscheuungswürdig sein, doch als Menschen gelten sie nicht für verloren.

Wie Stephen Lowe in seinen Stücken (ich denke vor allem an ‘Touched’ und ‘Die Menschenfreunde mit den zerlumpten Hosen’) bei der Beschreibung großer historischer Übergänge den handelnden oder mißhandelten Personen bis in die schlichten menschlichen Regungen folgt und, ohne an politischer Brennschärfe zu verlieren, ihr Verhalten psychologisch motiviert, sie dabei eine verblüffend direkte, einfache Sprache sprechen läßt, die auch das Schwierige sagt; wie er Ereignissen symbolische Bedeutung zu geben weiß; wie es ihm gelingt, komplexe soziale Vorgänge durch logische Entwicklung einfacher Handlungen durchschaubar zu machen – das zeichnet diesen außerhalb seines Landes so gut wie unbekannten Autor als Bühnendichter aus.

Sein neues Stück, das unter der Regie von William Gaskill soeben im Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt wurde, trägt den Titel ‘Tibetan Inroads’. Es erzählt die Geschichte des tibetanischen Schmiedes Dorje, der die Frau eines Grundbesitzers liebt und dafür als Ehebrecher grausam bestraft wird. Durch schwarze Magie eines Schamanen versucht er, Dämonen zu beschwören, die für ihn Rache üben sollen. Die Ankunft der chinesisch-kommunistischen Armee, die der Herrschaft der Mönche und Grundbesitzer ein Ende setzt, versteht Dorje als Erfolg seiner Invokation. Es dauert einige Zeit, bis er begreift, daß private Rachegelüste Verschwendung kostbarer menschlicher Energien sind. Man braucht ihn als Führer des Dorfes auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Der Ausbau der neuen Straße, der mit größter Eile vorangetrieben wird, ist das Symbol dieses Fortschritts.

Das Stück zeigt die Soldaten der chinesischen Armee zunächst als Befreier des Volkes aus der Tyrannei eines mittelalterlichen Feudalsystems, als märchenhaft sanfte Bilderbuchrevolutionäre, die den Armen nur Gutes bescheren und die Reichen mit größter Behutsamkeit von den Bürden ihres Reichtums befreien. Es ist der Ausdruck des Wunsches, wie es, sofern es anders war, doch hätte sein sollen.

Es gehört Mut dazu, heute wie eh und je, einer kommunistischen Expansion nicht nur böse imperialistische Motive zu unterstellen, sondern erst einmal anzuerkennen, daß sie für die vom Joch der Sklaverei Befreiten unschätzbare Gewinne gebracht haben mag. Darüber hinaus aber wird uns auch nicht verborgen, was auf der Verlustsseite großer sozialer Veränderungen steht, wenn einem Volk etwa zugemutet wird, mit einem einzigen gewaltigen Satz vom tiefsten Mittelalter in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu springen.

Den Tibetanern fehlt die Zeit zu verstehen, wie weit die ihnen auferlegten Veränderungen ihnen selber zugutekommen; Mißtrauen breitet sich aus. Durch das Gerücht, man habe vor, den göttlichen Dalai Lama zu entführen, kommt es zum Aufstand gegen die chinesische Armee. Tausende von Tibetern finden dabei den Tod.

‘Tibetan Inroads’, das sind die Schneisen des Fortschritts, die ins traditionelle Bewußtsein des tibetanischen Volkes geschlagen werden mußten, doch in diesem gewaltigen Akt die Menschen bis an die Grenzen des Erträglichen überforderten. Daß die Revolution auch alle religiösen Grundsätze zerstören muß, mag den Soldaten der chinesischen Armee logisch erscheinen, nicht aber dem Tibetaner, der vor den Ruinen seiner goldenen Tempel nach der Weisheit solcher Zerstörungswut im Namen des Aufbaus fragt und die menschlichen Verluste zu wägen beginnt.

William Gaskills Inszenierung bleibt in der Tradition des in den fünfziger und sechziger Jahren von George Devine, Lindsay Anderson und ihm selbst kreierten ‘Royal-Court-Theater-Stils’. Klarheit, Natürlichkeit, Ökonomie, der Verzicht auf jeden entbehrlichen bühnenbildnerischen Aufwand, der die Szene verstellt; dafür Konzentration auf den Menschen als ein in seinen Widersprüchen durchschaubares Wesen; Realismus der Darstellung als Produkt behutsamer Prüfung sozialer und psychischer Konditionen – das sind die Kriterien dieses Stils, den Gaskill vor allem in der Zusammenarbeit mit der Joint Stock Theatre Group in den letzten Jahren weiterentwickelt hat. Mit bewundernswerter Leichtigkeit löst Gaskill dabei immer wieder die Besetzungsprobleme personenreicher Stücke, die die verfügbaren Schauspieler zur Übernahme mehrerer Rollen zwingt.

In einer grandiosen Szene am Schluß sehen wir die Tibetaner wie die Arbeitssklaven der Feudalzeit unter der Aufsicht ihrer Befreier bis zur totalen Erschöpfung jene Straße bauen, die Maßstab des Erfolgs auf dem mühevollen Weg in Richtung auf die ersehnte menschenwürdige Gesellschaft geworden ist. Zur Selbstkritik der bisherigen Fehler aufgerufen, tritt Dorje, der Schmied, nach vorn und bekennt: Er sei den Erwartungen der chinesischen Freunde bisher allzu gedankenlos gefolgt; hier stehe er in Schweiß und Dreck gebadet und schufte wie ein Tier; er habe zu selten nach dem Warum und Wofür gefragt; er bereue dies, er werde es ändern.

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