die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 25
Autor Franz Kafka/Steven Berkoff
Theater
Titel The Trial
Ensemble/Spielort The London Theatre Group
Inszenierung/Regie Steven Berkoff
Sendeinfo 1972.01.22/SWF Kultur aktuell

Steven Berkoff, ein junger Schauspieler, der sechs Jahre lang im Repertoire-Theaterbetrieb gearbeitet hatte, ist der Gründer und künstlerische Leiter der London Theatre Group. Als er 1968 seine eigene Bühnenversion von Franz Kafkas Erzählung ‘In der Strafkolonie’ im alten Arts Lab inszenierte, entstand der Wunsch, die kleine Gruppe von Schauspielern für längere Zeit zusammenzuhalten und mit ihnen eigene Vorstellungen von neuen Möglichkeiten des Theater zu realisieren. Die London Theatre Group arbeitet heute nach dem klar formulierten Anspruch ihres Direktors in Richtung auf ein ‘totales Theater’ welches die Zuschauer auf intensivste Weise in die theatralischen Vorgänge einzubeziehen versucht.

Steven Berkoff hat sich inzwischen einen Namen gemacht, vor allem durch sein überaus erfolgreiches erstes Kafka-Stück und eine vielgepriesene Macbeth-Inszenierung. Sein Arbeitsstil weist ihn aus als einen der begabtesten, phantasievollsten und künstlerisch produktivsten unter den jungen englischen Regisseuren. Da die Gruppe sich nach dem Ende einer Vorstellungsserie auflöst und sich erst vor dem Beginn eines neuen Projektes wieder zusammenfindet, hat sie als Gruppe nicht den festen Platz im Bewußtsein der Öffentlichkeit gefunden, der ihr im Vergleich zu anderen Experimentierbühnen, von denen viel öfter die Rede ist, zukommt.

Steven Berkoffs London Theatre Group hat sich nun zum zweiten Mal mit einem Kafka-Stück vorgestellt, diesmal einer neuen Bearbeitung des ‘Prozeß’. Acht Darsteller verkörpern die annähernd zwanzig Personen der Handlung, die sich in 22 Szenen entfaltet, vom tänzerisch leichten Auftakt zu frivolen Melodien der Zwanzigerjahre über traumhaft beklemmende Verfolgungs- und Verhörszenen bis zum Urteil und dessen grausamer Exekution. Einzige Requisiten auf der nackten Bühne: acht leichte Rahmen, die von den Darstellern hin- und herbewegt oder zu endlos erscheinenden Gängen aufgestellt werden, sowie ein etwa sechs Meter langes Seil, das, von zwei Personen gehalten, als Treppengeländer, Barriere, Folterinstrument oder Galgen fungiert.

Die Darsteller tragen keine Kostüme, stattdessen eng anliegende Trikots, die größtmögliche Freiheit für die pantomimisch-tänzerisch-akrobatischen Bewegungsabläufe garantieren. Durch den Verzicht auf die gebräuchlichen theatralischen Hilfsmittel wird die Darstellung auf den Schauspieler konzentriert, der, wie Berkoff erklärt, sich selbst und seine körperlichen und seelischen Möglichkeiten als beinahe beliebig variables Material gebrauchen muß. Durch Gruppenübungen und Improvisationen erlernen die Schauspieler die Technik, die sie zur Darstellung der Vorgänge brauchen, ohne sich selbst darein zu verwickeln. Berkoff bedient sich vor allem pantomimischer Ausdrucksmittel, durch die ein nicht mehr auf Worte angewiesener unmittelbarer Kontakt zum Publikum hergestellt werden kann. Die literarische Vorlage verliert dabei ihre dominierende Rolle, Texte müssen übersetzt werden in szenische Bilder.

Über seine Arbeit an Kafkas ‘Prozeß’ befragt, erklärte Berkoff: “Kafkas Details waren so präzise, daß wir nur nach dem genauest möglichen Ausdruck suchen mußten, wobei die Schauspieler die Aufgabe hatten, nicht nur die Personen der Handlung, sondern auch deren Umgebung fast ohne alle Hilfsmittel zu verkörpern. Der erste Teil unserer Inszenierung bleibt noch einigermaßen im Bereich realer Logik, während der zweite Teil als K’s Alptraum ins Gespenstisch-Alogische, Wahnhafte sich steigert”.

Gefragt, warum er immer wieder auf ältere Autoren zurückgreife, statt sich den Werken lebender Schriftsteller zu widmen, die man nicht erst in die unmittelbare Gegenwart zu übertragen brauche, antwortete Steven Berkoff: “Was mich für meine Arbeit wirklich fasziniert, wurde vor mindestens fünfzig Jahren geschrieben“.

 

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