Als das Maly-Theater aus Leningrad vor drei Jahren zum ersten Mal nach England kam und bei den Maifestspielen in Glasgow und in den Londoner Riverside Studios auftrat, wurde ihm für seine Inszenierung des Stückes ‘Sterne am Morgenhimmel’ einer der höchsten britischen Theaterpreise zuerkannt, der Kenneth-Tynan-Gedächtnispreis der Olivier Awards. Das Ensemble, die bei weitem größte und berühmteste der im Rahmen des London International Festival of Theatre (LIFT) gastierenden Truppen, ist mit zwei neueren Inszenierungen nach London zurückgekehrt. Und nach der Premiere der ersten darf man vermuten, daß die Rückkehr des Leningrader Theaters als das bedeutendste Ereignis des diesjährigen Festivals gelten wird.
‘Gaudeamus’ basiert auf einer 1989 veröffentlichten Kurzgeschichte des russischen Autors Sergej Kaledin. Sie beleuchtet die Zustände in einem der berüchtigten Pionierbataillone der Roten Armee, in denen ehemalige Kriminelle, Juden, Zigeuner und andere Außenseiter der sowjetischen Gesellschaft ihren zweijährigen Militärdienst ableisten mußten. Die Soldaten der Truppe wurden routinemäßig zu allen möglichen Aufgaben in der Landwirtschaft und Industrie eingesetzt und galten als billige Arbeitssklaven. Korruption unter den Offizieren, kriminelle Vergehen und Brutalitäten aller Art brachten die Pionierbataillone so sehr in Verruf, daß sie durch Druck der sowjetischen Öffentlichkeit im vergangenen Jahr aufgelöst wurden.
Das von Schauspielschülern des Leningrader Theaterinstituts und einer Gruppe von jungen Schauspielerinnen und Schauspielern des Maly-Theaters unter der Regie seines Intendanten Lev Dodin entwickelte Stück ist nicht eine Dramatisierung der literarischen Vorlage. Die fünfzehn Jugendlichen Darsteller haben vielmehr Kaledins Text als Anregung für eigene Gedanken und Gefühle über das Schicksal junger Rekruten benutzt, die unter dem idiotischen Drill ihrer Ausbilder oder den von älteren Kameraden aufgezwungenen, demütigenden Initiationsriten besonders leiden, sowie über das Schicksal der jungen Mädchen und Frauen, die sich mit oder gegen ihren Willen von den brutalisierten, sexuell ausgehungerten Soldaten mißbrauchen lassen.
Die “neunzehn Improvisationen” des Stückes sind also nicht realistische Skizzen aus dem Alltag der Rekruten, sondern die szenisch ausgespielten Phantasien ihrer etwa gleichaltrigen Darsteller; Phantasien, Träume und Hoffnungen, die im Verlauf der einjährigen Probenzeit unter der Leitung des Regisseurs geordnet, ausgefeilt, choreographiert und mit Musik versetzt worden sind. Die musikalischen Themen (aus klassischen Konzerten und Opern, populären Schlagern, Volks- und Soldatenliedern) haben die dramaturgische Funktion, den Gefühlen der Charaktere gesteigerten Ausdruck zu geben oder sie zu kontrapunktieren.
Wie ein figurenreicher Bilderbogen werden die Szenen, lose assoziativ verbunden, vor uns ausgebreitet: Sympathische junge Männer in Zivil betreten das schräge, schneebedeckte Podest und stürzen durch schmale Falltüren, als brächen sie durch eine Eisdecke ins Bodenlose. Kurz danach erscheinen sie aufgereiht vor einem schwachsinnigen Major, der die Reinigung der Latrinen befiehlt und die neuen Rekruten wie ein kaputtes Grammophon in immer wieder gleichen Phrasen vor den Gefahren des Alkohols warnt. Ein Leutnant versucht, ihnen auf groteske Weise beizubringen, wie man strammsteht. Vor einem Nachttisch, der einen Offizier darstellen soll, müssen sie exerzieren, wie man einen Vorgesetzten grüßt. Ein 18-jähriger schließt Bekanntschaft mit einem hübschen Mädchen, das sein langes Haar im eisigen Wasser des überfrorenen Sees wäscht – und sieht sich im Geiste mit ihr auf einem festlichen Offiziersball über die Tanzfläche schweben. Andere leben ihre sexuellen Dränge auf brutal direkte Weise aus. Vom Liebeshunger der korpulenten Frau des Leutnants profitiert offenbar die ganze Kompanie. Nach einer wüsten Party mit Drogen und Alkohol kommt es zu einer Schlägerei mit einem Toten. Der zu Unrecht des Totschlags beschuldigte junge Rekrut versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Soldaten versammeln sich und singen eine Hymne auf ihren toten Kameraden (einen Ausschnitt aus einem Konzert von Dimitri Bortnyanski).
Die neunzehn Improvisationen unter dem Titel ‘Gaudeamus’ wirbeln in zweieinhalb Stunden ohne Unterbrechung über die Bühne. Lev Dodin hat aus dem ernsten Stoff ein groteskes, teilweise hinreißend komisches Schauspielballett komponiert. Alles, was auf der Bühne geschieht, wirkt so artistisch und wird so schwungvoll, tänzerisch leicht ausgeführt, daß man als Zuschauer in die Gefahr gerät, vor lauter Bewunderung der brillanten Darstellung, der Kunstfertigkeit des Dargestellten, der szenischen Poesie, die Scheußlichkeiten und Brutalitäten des korrupten Systems, das hier denunziert werden soll, in milderem Licht zu sehen. Die Schauspieler sind so begeistert bei der Sache, daß der Eindruck entstehen kann, der Militärdienst sei nicht ein barbarischer Mißbrauch junger Menschen, sondern eigentlich eine recht vergnügliche Zeit. Und das wäre dann doch wohl ein schreckliches Mißverständnis.