die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1991
Text # 259
Autor Franz Fühmann/Manfred Karge
Theater
Titel Fallen Angel (Sturz des Engels)
Ensemble/Spielort Bush Theatre/London
Inszenierung/Regie Jenny Killick
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1991.02.02/SWF Kultur aktuell/DLF/RIAS/Nachdruck: Darmstädter Echo

Seit Jahren haben wir das Klagelied gesungen, verdrossen und ungeduldig: über die scheinbar unüberwindbare Selbstbefangenheit der Briten, ihren Inselgeist, das notorische Desinteresse an kulturellen Erscheinungen des europäischen Kontinents, den theatralischen Einbahnverkehr, der nahezu alle erfolgreichen Stücke des englischen Theaters in kürzester Zeit auf die deutschen Bühnen führt, während das englische Publikum nur sehr selten das Stück eines deutschen Autors zu sehen bekommt. Es ist noch gar nicht so lange her, daß wir an dieser Stelle die britische Erstaufführung von Schillers ‘Räubern’, von Kleists ‘Penthesilea’, von Hauptmanns ‘Webern’ bekannt geben konnten.

Und nun die gute Nachricht: sechs Londoner Theater haben für einen Zeitraum von sechs Wochen nicht weniger als sieben Premieren deutscher Bühnenstücke angesagt, darunter sechs britische Erstaufführungen. Ob dies nur ein erfreulicher Zufall ist oder ein Zeichen dafür, daß ein neuer Wind zu wehen begonnen hat, der die Briten in Zukunft nicht nur an deutschen Industrieprodukten, sondern auch an künstlerischen Vorgängen des fernen Kontinents Europa teilhaben läßt, wird sich weisen.

Das kleine Bush Theatre ist eines der wenigen Londoner Theater, die ausschließlich zeitgenössische Stücke zur Aufführung bringen und die für die Künste verheerende Thatcher-Ära einigermaßen heil überstanden haben. Auf Anregung des englischen Autors Anthony Vivis, dem wir die Übersetzung der in Großbritannien bekannt gewordenen Stücke von Kroetz, Jandl und Karge verdanken, stellt das Bush Theatre die 1988 von Manfred Karge in Wien uraufgeführte Bühnenfassung von Franz Fühmanns autobiographischem Essay ‘Der Sturz des Engels’ vor.

Es ist der Monolog eines Mannes, der sich auf den Weg einer radikalen Selbstanalyse begeben hat. Er berichtet über seine erste Begegnung mit den Gedichten Georg Trakls, die ihn über alle wichtigen Stationen seines späteren Lebens begleiten sollten: von den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs über den nationalen Zusammenbruch, die lange russische Kriegsgefangenschaft bis in die Nachkriegszeit des gespaltenen Deutschland, die Gründerzeit der DDR und die kulturpolitisch konfliktreichen Jahre danach. Die Lektüre der Trakl-Gedichte wird zum Leitfaden einer Wandlung des begeisterten Hitler-Soldaten zum überzeugten Marxisten, der optimistisch “das kostbare Glück eines Neubeginns” rühmt, dann aber in einen neuen Konflikt gerät, den zwischen der Klassenkampfideologie, die nur in Schwarz und Weiß zu denken versteht, und der ‘Betroffenheit’ durch Poesie.

Der Monologisierende macht den Versuch, sein “Scheitern zu durchgrübeln”. Trakls Gedichte helfen ihm, sich zu erinnern: an seine Kindheit in einer “Atmosphäre von Kleinbürgertum und Faschismus”, an die Begeisterung für den Nationalsozialismus, an das Grauen des Krieges, an seine Bekehrung zum Sozialismus und die später einsetzende neue Desillusionierung, gewissermaßen ein zweites Absturzerlebnis, das ihn zwar nicht an der möglichen Verwirklichung der sozialistischen Idee zweifeln läßt, aber ihm sozialistische Ideologie zu durchschauen hilft.

Dabei entsteht ein faszinierendes Kaleidoskop der Zeitgeschichte, das auch für ein britisches Publikum zum Verständnis der Deutschen sowie im Hinblick auf die jüngsten politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa von größtem Interesse sein könnte. Bedauerlicherweise – und dies trübt nun die Freude über die Erstaufführung des Werkes eines bedeutenden, doch hierzulande noch unbekannten deutschen Autors ganz erheblich – bedauerlicherweise wird der meditative Text so undeutlich, so verwirrend-verworren und mit so viel unnötigen inszenatorischen Mätzchen umgeben dargeboten, daß sein gedanklicher und poetischer Reichtum weitgehend verborgen bleibt, sich darum im Publikum auch nicht die ‘Betroffenheit’ einstellen kann, die, wie Franz Fühmann erklärt, beim Lesen, also bei der direkten Konfrontation mit dem Text, zum Kriterium der Wahrheit eines poetischen Werkes wird.

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