die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1991
Text # 265
Autor Fyodor Abramow
Theater
Titel Brothers and Sisters (Brüder und Schwestern)
Ensemble/Spielort Maly-Theater Leningrad/LIFT ’91/London
Inszenierung/Regie Lev Dodin
Sendeinfo 1991.07.22/SDR/RIAS/BR/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo

Zwei Inszenierungen haben das Maly-Theater aus Leningrad inzwischen weltberühmt gemacht: ‘Sterne am Morgenhimmel’ (ein Stück über Prostituierte in Moskau, die während der Olympischen Spiele 1980 in Baracken eingesperrt wurden) und ‘Brüder und Schwestern’ (die Dramatisierung von Fyodor Abramows dreibändigem Roman über das Leben in einer Kolchose zur Stalin-Zeit). Im Rahmen des London International Festival of Theatre (LIFT ’91) stellte das Maly-Theater nun seine jüngste Inszenierung, das aus Improvisationen entwickelte Stück ‘Gaudeamus’ und das zweiteilige epische Drama ‘Brüder und Schwestern’ vor. Der Auftritt des russischen Ensembles wurde erwartungsgemäß zum Höhepunkt des diesjährigen Festivals.

‘Brüder und Schwestern’ ist die Leidensgeschichte russischer Männer und Frauen unter der stalinistischen Diktatur, die ihnen während des Krieges die größten Opfer und Entbehrungen abverlangte und dem hungernden Volk für die Zukunft rosige Zeiten versprach, doch es auch nach dem Ende der entsetzlich verlustreichen Schlachten mit immer wieder neuen Vertröstungen und Erpressung noch größerer Opfer vergeblich auf die Verheißungen warten ließ.

Der Zufall wollte es, daß die Premiere des ersten Teils von ‘Brüder und Schwestern’ am selben Tag stattfand, an dem der sowjetische Präsident Gorbatschow nach London gekommen war, um mit den Regierungschefs der sogenannten ‘Großen Sieben’ darüber zu verhandeln, wie der noch immer von politischen und wirtschaftlichen Problemen geschwächten Sowjetunion von Seiten des Auslands geholfen werden könne.

Was Fyodor Abramow in seinen Romanen niederschrieb und das Ensemble des Maly-Theaters auf die Bühne bringt, ist Ausdruck der tragischen Erfahrung von Menschen, die sich um eine menschliche Existenz betrogen fühlen. Als Loblied auf den Heroismus der Frauen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, den unter solchen Umständen fast unvorstellbaren Lebensmut, die moralische Standhaftigkeit Einzelner in einer Masse, die verlernt hat, nach dem eigenen Gewissen zu handeln, ist das Stück zugleich Ausdruck von Hoffnung: der Hoffnung auf endliche Erfüllung eines bis heute nicht eingelösten Versprechens.

“Es geht darum, Geschichte zu analysieren, mitzuteilen, was geschah“, erklärt der Intendant des Maly-Theaters und Regisseur beider Stücke Lev Dodin. “Ohne Verständnis der Vergangenheit verstehen wir auch nicht die Gegenwart”. Für Dodin ist die Wahrheit so elementarer Sätze noch konkret. Die Stücke ‘Brüder und Schwestern’, ‘Sterne am Morgenhimmel’ und ‘Gaudeamus’ seien eine Art Wandteppich eines halben Jahrhunderts sowjetischer Geschichte. Die Beschäftigung mit ‘Brüder und Schwestern’ gehe zurück bis in die Siebzigerjahre, als es noch wenig Grund zum Optimismus gegeben habe. Die Inszenierung selbst sei Ende der Achtzigerjahre entstanden und gehöre seither zum Repertoire des Theaters. Abramows halbautobiograhische, von der staatlichen Zensur jahrelang verbotene Romantrilogie und ihre Dramatisierung habe das Ensemble so lange beschäftigt, daß man mit gutem Recht sagen könne, die Aufführung sei “ein Stück unseres Lebens”.

Dies trifft offensichtlich in mehrfachem Sinne zu. Es gilt zunächst für die vierzig Darsteller, die über so viele Jahre mit dieser Aufführung gelebt haben. Es gilt aber auch für den Inhalt des Stückes, das für die Mitglieder des Ensembles auch ein Stück eigene Vergangenheit darstellt.

Das russische Publikum erlebt Abramows ‘Brüder und Schwestern’, wie Dodin bestätigt, heute als Stück der von der eigenen Gegenwart leider noch immer nicht überholten eigenen Vergangenheit. Der Stoff ist – trotz Perestroika – unerwartet aktuell geblieben.

In einem Gespräch nach der Vorstellung wurde deutlich, in welchem Maße sich auch ein westliches Publikum von dem Stück und seiner unbeschreiblich schönen Aufführung unmittelbar angesprochen fühlt. Ein junger Mann fragte den Regisseur, ob er glaube, daß das Stück auch für uns eine Botschaft habe, die uns verändern könne. Lev Dodin erwiderte: Wenn die Aufführung dieses Stückes uns angerührt habe, sei ja bereits etwas passiert, was uns, unser Bewußtsein und unser Verhalten, verändern werde.

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