die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 91
Autor Shane Connaughton
Theater/ Kulturpolitik
Titel George Davis is Innocent OK
Ensemble/Spielort Half Moon Theatre/London
Inszenierung/Regie Pam Brighton
Uraufführung
Sendeinfo 1975.10.28/SWF Kultur aktuell/WDR Nachdruck: Darmstädter Echo/National-Zeitung Basel

“Ein Polizist mag Unrecht haben, selten zwei, aber ganz sicher nicht fünf Polizisten“. Also sprach der weise Richter und verurteilte den Minitaxifahrer George Davis wegen bewaffneten Raubüberfalls und Verletzung eines Polizisten zu zwanzig Jahren Gefängnis.

Fünf maskierte Männer waren am 4. April 1974 in ein Lohnbüro der Londoner Elektrizitätsgesellschaft eingedrungen und hatten £7615 (42.000 DM) erbeutet. Zwei Kriminalbeamte hatten den Überfall beobachtet und über Sprechfunk an die Zentrale gemeldet. Sieben Polizeiwagen beteiligten sich an der Verfolgungsjagd, doch im dichten Stadtverkehr entkamen die Täter. Ihre Beute mußten sie fahren lassen.

Die polizeiliche Voruntersuchung konzentrierte sich auf fünf Personen, die direkt oder indirekt zum Kreis der in ungeklärten Fällen stets verdächtigen Vorbestraften des Londoner Ostends Verbindung hatten, deren Kneipen und Treffpunkte man kannte und mißtrauisch überwachte. In dem anschließenden Prozeß wurden vier der fünf Angeklagten mangels Beweises freigesprochen; das Urteil für den fünften – George Davis – hieß: zwanzig Jahre Gefängnis.

Vieles spricht dafür, daß Davis unschuldig im Gefängnis sitzt und das fragwürdige Urteil durch Manipulation der Polizei zustande kam, die nach der erlittenen Schlappe alles daransetzte, für den Raubüberfall, der unter den Augen von zwei Kriminalbeamten stattfand, Täter zu finden.

Das Stück ‘George Davis is Innocent OK’ von Shane Connaughton, uraufgeführt im Half Moon Theatre unter der Regie von Pam Brighton, solidarisiert sich mit den Angehörigen und Freunden des Verurteilten, die von seiner Unschuld überzeugt sind und um die Wiederaufnahme des Verfahrens kämpfen. Das kleine Half Moon Theatre, das in einer ehemaligen Synagoge im Londoner Eastend arbeitet, gilt als “bestes und intelligentestes politisches Theater der Stadt“. Wie die Westendbühnen sich als Unterhaltungsstätten der Bourgeoisie verstehen, sieht sich das Half Moon als Theater des Proletariats, zuständig vor allem für die Bewohner des Bezirks, zu dem es gehört. Stepney ist Dockland. Wer für die Leute des Docklands Theater machen will, muß sich mit ihren realen Interessen solidarisieren.

Der Fall George Davis hat die Bevölkerung des Eastends in Harnisch gebracht. Die Kampagne zur Befreiung des vermutlich zu Unrecht Verurteilten hat sich durch die Stärke ihrer Argumente zu einer Protestbewegung ausgewachsen, die über die traditionelle Solidarität der Eastend-Bewohner weit hinausgeht und inzwischen auch in anderen Kreisen der Bevölkerung viel Sympathie und Unterstützung gefunden hat, sowie eine Publicity, welche wohl früher oder später eine Revision des Verfahrens erzwingen wird, die nach britischem Recht ohne Vorlage neuer Tatbestände theoretisch nicht möglich ist. Die gegen Polizei und Gericht erhobenen Anschuldigungen haben den Glauben vieler an die Integrität der britischen Rechtsprechung und ihrer polizeilichen Freunde und Helfer heftig erschüttert und zu einer polizei-internen Untersuchung geführt. Darüber hinaus hilft die Publizität des Falles allen Befürwortern einer Gesetzesänderung, die eine Verurteilung nur aufgrund von Zeugenidentifikation verhindert oder erschwert.

“George Davis is Innocent OK’ von Shane Connaughton entstand in Zusammenarbeit mit den Familienangehörigen und Freunden des Verurteilten. Der erste Teil des Stückes rekapituliert die Ereignisse vom Tag des Überfalls bis zu Davis’ Verurteilung; der zweite Teil zeigt die Entwicklung der George-Davis-Kampagne, die mit der Beschädigung eines Cricket-Spielfeldes vor einem bedeutenden internationalen Match wegen der damit verbundenen nationalen Entrüstung ihren bisherigen Höhepunkt erreichte.

Die szenische Rekonstruktion der Ereignisse um die Verhaftung von George Davis gibt Einblick in die Arbeitsweise der Londoner Polizei und verweist auf die Widersprüche in den Aussagen der Polizisten vor Gericht; auf die Unterschlagung der forensischen Untersuchungsergebnisse, welche die Angeklagten entlastet hätten; auf die Parteilichkeit des Richters, der den Aussagen der Polizisten, die sich offensichtlich abgesprochen hatten, von vorne herein mehr Vertrauen schenkte als den zivilen Zeugen; auf die Tatsache, daß nur ein Teil der zahlreichen Augenzeugen zum Prozeß geladen wurde; und auf die Unzuverlässigkeit der Identifizierungsmethode durch Gegenüberstellung, nach welcher Davis verurteilt wurde, obwohl der positiven Identifikation von fünf Polizisten 34 negative von anderen Zeugen entgegengestanden.

Was das Stück über die Dokumentarisierung eines Einzelfalles hinaus interessant macht, ist die Unterstellung, daß er für das Vorgehen der Polizei und die Haltung der Gerichte gegenüber Angeklagten aus proletarischem Milieu exemplarisch sei. Die Entwicklung der Kampagne für die Befreiung von George Davis dient überdies als Modell für die Entwicklung einer ideologisch vorurteilslosen, privaten Reaktion auf ein wahrgenommenes Unrecht zu einer Protestbewegung, welche die Integrität staatlicher Organe infrage stellt und ihre Unmoral als Beweis für die Mangelhaftigkeit eines Staatsapparates in Sachen Demokratie versteht, auf die man sich hierzulande sonst so viel zugute hält.

In solchem Kontext gewinnt die Arbeit des Half Moon Theatre, das sich für George Davis engagiert, eine Bedeutung, die über das theatralische Vergnügen an der kritischen Darstellung dieses Musterfalles hinaus geht und uns alle betrifft.

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