Wenn jedes in England erfolgreiche Theaterstück schnurstracks auf die deutschen Bühnen wandert und die Namen englischer Autoren dem deutschen Publikum heute ebenso vertraut sind wie die der eigenen Sprache; wenn man in England dagegen kaum einen Theaterbesucher findet, der auf die Frage nach deutschen Stückeschreibern mehr als den Namen Bert Brechts zu nennen wüßte; dann verdient ein Projekt, das der notorischen Ignoranz der Insulaner über kontinentaleuropäische Ereignisse durch die Präsentation von nicht weniger als zehn Theaterstücken deutscher und österreichischer Autoren auf die Sprünge helfen möchte, so viel Anerkennung und Lob, daß kritische Einwände, wie dies oder jenes besser zu machen gewesen wäre, zunächst fast irrelevant erscheinen. Daß es der couragierten Wienerin Estella Schmid gelang, zehn Texte ins Englische übertragen zu lassen, die Leitung des Soho Poly für ein so anspruchsvolles Vorhaben zu begeistern, die finanziellen Mittel zu seiner Realisierung zu beschaffen und eine kleine Gruppe von Regisseuren und Schauspielern zu überreden, die Lösung einer Aufgabe zu versuchen, die angesichts der Umstände (minimale Probenzeiten, minimale Gagen) von vornherein als undankbar gelten mußte, ist als ein beachtlicher Erfolg zu verbuchen. Daß die Theaterzeitschrift ‘Gambit’ durch den Abdruck von vier Stücken und eines dreißig Seiten langen Kommentars zu den Autoren der Reihe sich an dem Projekt beteiligte, half, die Bedeutung des Ereignisses zu unterstreichen. Zweck der Veranstaltungsreihe schien es vor allem zu sein, das englische Theater auf ein bisher unerschlossenes dramatisches Potential zu verweisen, das zu entdecken und in angemessener Form dem britischen Publikum vorzustellen sich lohnen würde.
Wenn es zwischen den sehr verschiedenen Autoren, deren Stücke in diesen Woche erstmals in englischer Sprache aufgeführt oder als Lesungen dargeboten werden, ein Gemeinsames gibt, dann möglicherweise ein Verständnis der eigenen Rolle, das Heiner Müller, dessen Stück ‘Der Auftrag’ die Reihe eröffnete, mit den Worten beschrieb: “Kunst als Mittel, die Wirklichkeit unmöglich zu machen“. Ob der Untertitel der Deutschen Theaterwochen, in dem vom Ende einer Ära die Rede ist, nämlich der Zeit der Auseinandersetzung mit den Folgen des Dritten Reiches, für die zur Diskussion stehenden Arbeiten Wesentliches besagt und wie weit die in der Zeitschrift ‘Gambit’ vertretene Ansicht berechtigt ist, daß die “Befreiung von Zweifeln und Schuldbewußtsein” “der wohl hoffnungsvollste Aspekt” der deutschen Kulturszene sei, mag dahingestellt bleiben.
‘Der Auftrag’ (in der Übersetzung von Stuart Hood unter dem Titel ‘The Mission’), eines der wichtigsten Werke und inszenatorisch gewiß das schwierigste Vorhaben der Serie, wurde zum ersten grausamen Test der zunächst wohl von allen Beteiligten für selbstverständlich gehaltenen These, daß jede, mit noch so bescheidenen Mitteln realisierte Inszenierung eines hierzulande noch unbekannten Werkes besser sein müsse als gar keine Inszenierung. ‘Der Auftrag’ , erst kürzlich in Bochum unter des Autors eigener Regie vor einem weitgehend konsternierten Publikum aufgeführt, ist zwar ein höchst problematisches, doch, wie mir scheint, keineswegs unspielbares Theaterstück zum Thema Revolution; ein Stück, dessen Schwierigkeiten zum Teil darin liegen, daß es sich in traumbildhafter Verschlüsselung mitteilt, Erkenntnisse und Erfahrungen der politischen Gegenwart wie Augenblicke der Erinnerung an scheinbar weit entdrückte geschichtliche Vorgänge zur Wahrheit dämmern läßt und dem Publikum die Arbeit des imaginierenden kritischen Denkens zumutet, das unser schabloniertes Verhalten – auch im Theater – sprengt.
In diesen Bruchstücken einer erinnerten Revolution geht es nicht nur um das Schicksal der Individuen Debuisson, Gallondec und Sasportas, die als Emissäre der französischen Republik in Jamaika eine Revolution der Sklaven entfachen sollen und deren Auftrag durch das von Napoleon diktierte vorläufige Ende der Republik die Vollmacht entzogen wird. Es geht um den Konflikt zwischen Theorie und Praxis, den revolutionären Anspruch und seiner Erfüllung, zwischen der Sehnsucht nach der menschenwürdigen Gesellschaft und jener nach Befriedigung der ganz elementaren Bedürfnisse. Es geht um die Metamorphosen der Ausübung von Gewalt, den Rückfall des Fortschritts in Barbarei. Und um die perverse Angst vor dem Versagen, dem Versagen vor dem Auftrag, vor der Versuchung der Schönheit der Welt, vor der “Schande, auf dieser Welt glücklich zu sein”.
Doch nahezu all dies, in herrlich dichten, sprachlich mitunter hinreißend schön formulierten Bildern beschworen, geht in der hoffnungslos verworrenen Londoner Inszenierung unter. Daß das Projekt unter den ungünstigsten Bedingungen realisiert werden mußte – nur vier Schauspieler, minimale Produktionskosten und zwei Wochen Probenzeit – legt die Frage nahe, ob es unter solchen Umständen nicht ratsam gewesen wäre, auf eine Inszenierung des komplexen Werkes ganz zu verzichten und es stattdessen, wie andere Stücke der Reihe, als sorgfältig vorbereitete Lesung darzubieten, die ihm vermutlich eher gerecht geworden wäre. Die lebhaften Aussprachen, die sich im Anschluß an die ersten Lesungen und hier besonders nach Tankred Dorsts ‘Toller’ ergaben, schienen diesen Eindruck zu bestätigen.
Die zweite Aufführung der Reihe, Maria Reinhards ‘Schlag auf Schlag’, bot als Monolog keine inszenatorischen Schwierigkeiten. Jan Sargent ließ den Lebensbericht der Veronica M. in einem mit Kleidungsstücken verhängten Maschendrahtkäfig sprechen, dem die wegen Kindesmißhandlung Angeklagte, selbst Opfer unbarmherziger Verhältnisse, nicht entfliehen kann. Durch Kika Markhams eindringliche Darstellung wurde daraus eine erschütternde Studie gesellschaftlicher Ohnmacht gegenüber der seelischen Not des Einzelnen.
Die ersten Reaktionen der Londoner Presse auf die Veranstaltungsreihe, die durch ein Wochenendseminar zum Thema ‘Deutsches Theater heute’ ihren Abschluß finden soll, waren fast ausnahmslos wohlwollend positiv. Ob es gelingen wird, das von dem Kritiker der ‘Times’ in seiner Ankündigung auf die Deutschen Theaterwochen erneut ausgesprochene Vorurteil zu revidieren, daß die Engländer in Sachen Theater halt Besseres zu bieten haben, bleibt freilich zweifelhaft.