die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1976
Autor Peter Gill
Theater
Titel Small Change
Ensemble/Spielort Roundhouse/London
Inszenierung/Regie Peter Gill
Uraufführung
Sendeinfo 1976.07.09/SWF Kultur aktuel 1976.07.12/DLF 005/Royal Court Theatre/London

‘Small Change’ von Peter Gill, soeben uraufgeführt im Londoner Royal Court Theatre, ist ein außergewöhnliches Stück. Vier Personen, zwei Mütter und ihre beiden Söhne, reflektieren ihr Leben, ihr komplexes Verhältnis zueinander, ein durch Not, Unglück und Konventionen beschädigtes Leben. Die Vier sitzen auf steiler, leerer Bühnenschräge. Aus Monologen entwickeln sich Gespräche, Streitgespräche zumeist, verzweifelte Versuche der Jungen, dem materiellen und seelischen Trübsal zu entfliehen, das ihre Kindheit in einem Vorort der südwaliser Stadt Cardiff vergiftet. Erinnerungen an Väter, die ihre Frauen verlassen, ihre Söhne kaum kennen; an Mütter, die durch Arbeit und Sorgen überlastet, mit ihrem Schicksal hadern, ihre Frustration auf die Jungen übertragen, die das Leben zunächst noch genießen wollen und doch bereits unter dem Fluch des Unabänderlichen zu stehen scheinen.

‘Small Change’ ist die kleine Münze, mit denen ihnen das Leben heimzahlt sowie die lächerlich kleine Veränderung, welche die Jungen ihm abtrotzen.

Mrs Hart ist über die Jahre bitter geworden. Der Krieg, so meint sie, mit dem so vieles begann, hat vieles kaputt gemacht. Mrs Driscoll, die Nachbarin, ist fixiert auf den Gedanken, daß sich ihr Mann von ihr abgewandt hat; sie schluckt Gift. Beide Söhne reißen aus von zu Hause, Gerard geht in die Stadt, Vincent zur See, heiratet irgendwann, doch die Frau läuft ihm davon.

Die vier Personen, die während des ganzen Abends die Bühne nicht verlassen, berichten (wie die Figuren aus Urnen in Becketts ‘Spiel’) über ein Leben, das hinter ihnen liegt und das sie in Bruchstücken reproduzieren. Die Vorgänge der Vergangenheit sind aus der Chronologie ihres Ablaufs herausgelöst; was faktisch geschah, muß oft aus beiläufigen Andeutungen geschlossen werden, fügt sich erst im Verlauf des Stückes zu einem in der zeitlichen Entwicklung verständlichen Ganzen.

Das Verhältnis der beiden Jungen wird in drei offenbar besonders entscheidenden Phasen beleuchtet: Die Sorglosigkeit der neunjährigen Lausbuben, die ihren Müttern das Leben schwer machen; die Schönheit einsamer Stunden am Meer, als Halbwüchsige, die zu ahnen beginnen, daß sie einander lieben; und eine Wiederbegegnung in späteren Jahren, bei dem sie sich gegenseitig vorwerfen, die Möglichkeit eines anderen Glücks, das den Bann der Konventionen hätte brechen können, das Bekenntnis zueinander versagt zu haben.

Versagung zieht wie ein Leitmotiv durch die erinnerten Stationen: Die Mütter, die den Söhnen die Liebe oder die Ausgelassenheit, sich selbst das Weinen als Ausdruck des Schmerzes versagen, sich auch die Hoffnung versagen, dem Elend jemals entfliehen zu können; und die Freunde, die sich die kleinen Gesten der Zuneigung, später selbst das Glück gemeinsamer Erinnerungen versagen. Zum Schluß bleibt nur die Melancholie der verspielten Möglichkeiten.

Peter Gill, der Autor und Regisseur Stückes, hat einen dichten poetischen Text gewebt, der, statt einer geradlinig sich entwickelnden Handlung zu folgen, eine faszinierende Fülle genau beobachteter Details aus dem Leben der vier Menschen und ihrer Beziehung zueinander enthält. Seine Inszenierung ist ein Meisterwerk an Verhaltenheit. Die Schauspieler – James Hazeldine, June Watson, Phillip Joseph und Marjorie Yates – agieren und sprechen mit der Sensibilität von Kammermusikvirtuosen. Ein außergewöhnlicher Abend.

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