die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1999
Text # 368
Kulturpolitik
Titel Goldesel Kultur - Notizen zum Entwurf eines kulturpolitischen Konzepts für London (Kurzfassung)
Sendeinfo Dezember 1999 - Januar 2000 (unveröffentlicht)

“London ist wahrscheinlich die Stadt der größten Konzentration von aktiven Künstlern, Musikern und Designern und der größten Konzentration von Design-, Druck- und Verlagsindustrien in der Welt“, heißt es im Vorwort eines in staatlichem Auftrag angefertigten Papieres, das im November 1999 unter dem Titel ‘Entwurf einer Strategie für die kreativen Industrien’ erschien und dem im Mai 2000 gewählten ersten Regierenden Bürgermeister der Stadt Leitlinien für eine koordinierte städtische Kulturpolitik im Verwaltungsbereich Greater London vorschlagen sollte. “London ist das größte Medienzentrum der Welt. Für Großbritannien ist London das Zentrum nahezu aller Aktivitäten im kreativen Bereich. Die kreativen Industrien haben eine Schlüsselfunktion für den Wohlstand und das Wohlergehen der Stadt”.

Auffallend ist hier, daß die verschiedenen Kategorien künstlerischer Arbeit – Musik, Theater, Tanz, Film, Malerei und andere ihnen verwandte kreative Tätigkeiten, die sich als Kunstgattungen verstehen und damit qua definitionem der gesellschaftlichen Praxis, in diesem Fall dem kapitalistischen Streben aller nach materiellem Gewinn, sich widersetzen – mit Berufen ganz anderer Art, bei denen rein kommerzielle Interessen im Vordergrund stehen, gleichgesetzt, als Industriezweige angesehen und in ihrer Bedeutung als Wirtschaftsfaktoren gewürdigt werden.

Dadurch hat sich eine ganz neuartige Situation ergeben. Die auf Finanzierung von außen angewiesenen Künste haben eine Lektion gelernt, die entscheidend sein könnte für die Frage, ob es für die Arbeit der Künstler überhaupt noch eine Zukunft geben wird.

Die Kulturindustrie als Wirtschaftsfaktor

Der Einsicht folgend, daß eine Gesellschaft, die alles an ökonomischen Maßstäben mißt, mit idealistischen Argumenten nichts anzufangen weiß; daß sie von dramatischen Klagegesten der um die Erhaltung geistiger Werte Besorgten sich nicht im geringsten beeindrucken läßt; daß sie für die Künste nichts übrig hat, solange sie als kostspieliger Luxus gelten, den die meisten für entbehrlich halten, weil er für die Volkswirtschaft nur eine Belastung sei – solcher Einsicht folgend sind die an die Erhaltung und Förderung der Künste Interessierten in die Offensive gegangen: mit dem Nachweis, daß die künstlerischen Aktivitäten insgesamt kein Zuschußgeschäft, sondern im Gegenteil, ganz abgesehen von geistigen Werten, als Wirtschaftsfaktor von wahrlich ungeahnter Bedeutung sind.

Der National Music Council hatte bereits im November 1996 einen Bericht vorgelegt, der anhand von Zahlen die wirtschaftliche Bedeutung der britischen Musikindustrie belegen sollte. Dabei wurde festgestellt, daß für Konzerte und musikalische Veranstaltungen, die Produktion und den Verkauf von Schallplatten, die Wahrnehmung von Urheberrechten, die Herstellung und den Vertrieb von Musikinstrumenten sowie für musikpädagogische Zwecke 1995 landesweit nicht weniger als umgerechnet 10 Milliarden Mark ausgegeben worden seien. Dies bedeute, daß die Musikindustrie größer sei als die Chemie-, die Elektro- oder die Schiffsbauindustrie.

Modellfall Theater

Am aufschlußreichsten für die Situation in London ist der 1998 veröffentlichte ‘Wyndham Report’ über die wirtschaftliche Bedeutung der Londoner Westendbühnen, eine unabhängige Studie, die im Auftrag der Society of London Theatre (SOLT) von Tony Travers, Professor an der London School of Economics, in Zusammenarbeit mit dem britischen Institut für Datenverarbeitung MORI hergestellt wurde. Die darin genannten Zahlen des Jahres 1997 beziehen sich auf rund fünfzig Bühnen, von denen die meisten in der berühmten Quadratmeile des sogenannten Londoner Westends angesiedelt sind, sowie auf ihr städtisches Umfeld. Nur ein kleiner Teil dieser Theater erhält staatliche oder städtische Zuschüsse; die übrigen gelten als kommerzielle Betriebe.

Der Wyndham Report beschreibt die Aktivitäten des Londoner Westends als fast beispiellose Erfolgsgeschichte eines Industriezweiges, der dem Land und seiner Hauptstadt mehr Geld einbringt als viele andere große Industrien, beispielsweise mehr als die gesamte britische Filmindustrie, und dreimal mehr Besucher in die Theaterhäuser lockt, als zu den Spielen der dreizehn professionellen Londoner Fußballvereinen kommen.

Die 11,5 Millionen Zuschauer der Londoner Opern-, Schauspiel-, Musical- und Tanzveranstaltungen zahlten 1997 für ihre Karten umgerechnet 750 Millionen Mark. Sieben von zehn Theaterbesuchern erklärten, daß sie die Fahrt ins Londoner Westend mit einem Essen in einem der vielen Restaurants verbinden. Dabei wurden weitere 300 Millionen Mark ausgegeben. 15% der Theaterbesucher hatten außerdem für Hotelunterkunft gezahlt – insgesamt fast 350 Millionen Mark. Über 460 Millionen Mark fielen auf Transportkosten. – Mehr als zwei Millionen der Theaterbesucher kommen aus dem Ausland; da sie in der Regel besonders spendierfreudig sind und sich meistens über mehrere Tage in London aufhalten, hat man ausgerechnet, daß sie allein nicht weniger als 678 Millionen Mark in die Londoner Kassen fließen lassen. – Die Ausgaben der Theater selbst (für Personal und Verwaltung, Technik, Werkstätten etc.) betrugen 1997 über zwei Milliarden Mark.

Der Staat kassiert

Durch die Aktivitäten der Londoner Westendbühnen wurden über 27.000 Arbeitsplätze geschaffen (indirekt sind es wesentlich mehr). Die Einkünfte aus dem Kartenverkauf und die durch die Theaterbesucher erzielten höheren Umsätze der Hotels, Gaststätten und Transportmittelbetreiber bescheren dem britischen Staat Steuereinnahmen in Höhe von mindestens 600 Millionen Mark. Vergleicht man diesen Betrag mit der Summe der an einige Betriebe gezahlten Subventionen in Höhe von nur 150 Millionen Mark, dann zeigt sich , daß der Staat allein an den größeren Theatern seiner Hauptstadt jährlich mindestens 450 Millionen Mark reinen Profit macht.

Da sich diese Zahlen nur auf die annähernd fünfzig Bühnen des Londoner Westends beziehen (ohne Berücksichtigung der übrigen siebzig Theater in London, die als ‘Off West End-Bühnen oder ‘Fringe Theatre’ nicht zur erlauchten Society of London Theatre gehören), müßte man an dieser Stelle eine ähnliche Rechnung für alle anderen Bereiche der Londoner Kulturszene aufmachen, um genauer kalkulieren zu können, was der Staat insgesamt aus dem, was London kulturell zu bieten hat, erwirtschaftet: für den musikalischen Bereich mit täglich weit über hundert Konzertveranstaltungen, für die rund vierhundert Londoner Museen und Kunstgalerien und für die zahllosen Schauplätze von kulturhistorischem Interesse, bei denen der Staat direkt oder indirekt mitkassiert.

Wer subventioniert ?

Zuständig für die Verteilung staatlicher Subventionen an die Künste in Großbritannien ist der Arts Council, ein Rat von elf unbezahlten Administratoren und Kunstexperten, die vom britischen Minister für Kultur, Medien und Sport berufen werden, aber theoretisch als unabhängig und unpolitisch gelten. Etwa ein Drittel der für kulturelle Aufgaben zur Verfügung stehenden Gelder wird an die zehn regionalen Kunstausschüsse weitergeleitet. Verantwortlich für die Verteilung der Mittel im Londoner Bereich ist der London Arts Board. Darüber hinaus werden seit Gründung der Staatlichen Lotterie 28% der Nettogewinne an sechs sogenannte gute Zwecke abgeführt, unter anderem auch an künstlerische Projekte.

Als die Labour Party im Mai 1997 die britische Regierung übernahm, rechnete man damit, daß sie für eine beträchtliche Erhöhung des Kulturbudgets sorgen werde. In den achtzehn Regierungsjahren der Konservativen Partei waren die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ohnehin sehr bescheidenen Subventionen für die Künste so oft gekürzt worden, daß schon Mitte der Achtzigerjahre ein unabhängiger Untersuchungsausschuß unter der Leitung eines prominenten Finanzexperten zu dem Ergebnis kam, der Verfall des britischen Theaters, das in den Siebzigerjahren eine fast einzigartige Blütezeit erlebt hatte, sei nur durch eine fast fünfzigprozentige Erhöhung der öffentlichen Zuschüsse aufzuhalten. Die Warnung blieb unbeachtet und der Verfall ging weiter. Dutzende von kleinen Theatergruppen wurden aufgelöst, die größeren Bühnen stellten ihre Spielpläne um, kürzten die Anzahl ihrer Inszenierungen, brachten immer weniger neue Stücke heraus und dann nur noch solche mit kleinster Besetzung. Schon 1986 schrieb der Kritiker der Tageszeitung ‘The Guardian’: “Eine ganze Generation radikaler Experimentatoren ist ausgefallen und Mittelmäßigkeit macht sich breit. Daß hier und da immer noch Außergewöhnliches geleistet wird, ist allein der Tatsache zuzuschreiben, daß Theater überwiegend von verrückten Idealisten betrieben wird, denen Kunst mehr gilt als Profit. Das englische Theater wird subventioniert von denen, die darin arbeiten”.

Gewinner und Verlierer

Festzuhalten wäre also, daß der Kulturbetrieb dem britischen Start und seiner Metropole Milliardenbeträge erwirtschaftet, ein Teil der Künste aber, die auf Finanzierungshilfen von außen angewiesen sind, an den Gewinnen nicht partizipiert. Im britischen ‘Zentrum der Unterhaltungsindustrie’ geht es nur den Betrieben gut, die sich gut verkaufen. Daß die meisten Produkte der Unterhaltungsindustrie künstlerisch nicht allzu hohen Ansprüchen genügen, scheint die zahlenden Zuschauer kaum zu stören.

Dies schafft der Regierung ein willkommenes Alibi. Sie kann sich darauf berufen, demokratisch zu verfahren, wenn sie die Popularität der Produkte für wichtiger hält als deren künstlerischen Wert. Anspruchsvollere Unternehmungen, die auf Förderung angewiesen sind, werden des Elitären bezichtigt, weil sich angeblich nur wenige dafür interessieren. Schließlich scheinen alle Aktivitäten, die nicht in der Lage sind, sich finanziell selbst zu tragen, auch kaum noch förderungswürdig.

Dabei wird törichterweise übersehen, daß beispielsweise die subventionsbedürftigen Repertoiretheater im ganzen Land, in denen die Schauspieler, Sänger und Tänzer ihre beruflichen Fähigkeiten entwickeln, bevor sie ins Rampenlicht der Westendbühnen gelangen, oder die Vielzahl der kleinen Theater, die mit der Aufführung neuer Stücke für die Entdeckung der Nachwuchsautoren sorgen, als Nährboden für alle größeren Bühnen, für die exportträchtigen Musical-Theater, für Film und Fernsehen von eminent wichtiger Bedeutung sind und daß zwischen den verschiedenen Formen der darstellenden Kunst ein ständiger Austausch stattfindet.

Quelle der Verlegenheit

Nach langem Zögern entschloß sich im Sommer 1999 die neue Labour-Regierung zu einer Erhöhung des auf 0,1% Prozent der britischen Staatsausgaben gesunkenen Kulturbudgets, einer Erhöhung um 11%, die viele enttäuschte, weil sie mindestens doppelt so hoch hätte sein müssen, um die in den Jahren davor erfolgten Kürzungen auszugleichen.

Im September 1999 meldete sich Sir Peter Hall, der ehemalige Intendant der Royal Shakespeare Company und des National Theatre, einer der mutigsten und entschiedensten Kritiker der britischen Kulturpolitik, in der Tageszeitung ‘The Guardian’ mit einem Kommentar, der auf Unterschiede zwischen den Hauptstädten Berlin und London hinwies, den Deutschen gratulierte, daß sie Simon Rattle zum Leiter der Berliner Philharmoniker gemacht hatten, und die Prognose wagte, das zweite Jahrtausend werde wahrscheinlich beginnen mit einem “Jahrhundert von Berlin” als kulturelle Metropole Europas. “Der Kulturetat von Berlin ist viermal so hoch wie das, was wir in ganz England für die Künste ausgeben”, schrieb Hall. “London hätte die kulturelle Hauptstadt Europas werden können, doch unser Desinteresse sorgte wieder einmal dafür, daß wir den kürzeren zogen ... Unsere Künste liegen ganz furchtbar im Argen, doch keiner gibt es zu. Und nun will uns auch die neue Labour Party weismachen, alles sei doch in bester Ordnung”. Man müsse Tony Blair daran erinnern, daß Shakespeare mindestens so wichtig gewesen sei wie Elisabeth I und man von Mozart noch lange wissen werde, wenn man seinen Kaiser längst vergessen habe.

Investieren statt Subventionieren

Die Angewiesenheit auf private Geldgeber (Banken, Versicherungen, Ölgesellschaften als sogenannte Sponsoren) hat die Bereitschaft zum künstlerischen Risiko eingeschränkt. Sie fördert die Bereitschaft zur politischen Selbstzensur. Industriekonzerne sind keine selbstlosen Mäzene, sie handeln aus Eigeninteresse. Es geht ihnen um Publicity, die Promotion ihrer eigenen Produkte. Nicht selten wird die Auswahl der künstlerischen Projekte, die sie zu fördern bereit sind, von werbetechnischen Erwägungen diktiert.

Vielleicht aber sind die Konzerne, die sich als Sponsoren betätigen, auch weil sie in der Regel besser zu rechnen verstehen als Politiker und die in öffentlichen Diensten tätigen Verwaltungsbeamten, bereits etwas ganz Wichtigem auf die Spur gekommen: daß nämlich die sogenannten ‘kreativen Industrien’ insgesamt ein Wirtschaftspotential darstellen, das sich auf andere Wirtschaftszweige auswirkt und nicht nur zur Verbesserung des geistigen Klimas, sondern auch direkt und indirekt zur Vermehrung der Arbeitsplätze, also zur Vermehrung des Volksvermögens beiträgt, woran den Konzernen im Blick auf den eigenen Umsatz gelegen ist. Die zur Förderung künstlerischer Vorhaben ausgegebenen Gelder wären dann weniger als generöse altruistische Gesten zu verstehen, sondern als ökonomisch sinnvolle Investition.

“Die kreativen Industrien – von den Medien über die Musikindustrie und die Künste, die verschiedenen Arbeitsbereiche auf dem Sektor Design, die Verwaltung des kulturellen Erbes, die Museen und Kunstgalerien bis zu den Komplexen Sport und Erholung – sind ein wesentlicher Faktor der Londoner Wirtschaft“, hieß es in dem ‘Entwurf einer Strategie für die kreativen Industrien’, der das Konzept einer koordinierten Kulturpolitik für London vorbereiten sollte. “Dies ist einer der am schnellsten expandierenden Sektoren der britischen Wirtschaft, der für Steuereinnahmen sorgt in Höhe von 16 bis 20 Millionen Pfund (48 bis 60 Milliarden Mark) und 12% der arbeitsfähigen Bevölkerung Londons beschäftigt”.

Daraus wäre der Schluß zu ziehen, das gesamte Konzept der “Subventionierung” der Künste als irreführenden Begriff über Bord zu werfen, die nicht quantifizierbaren geistigen Gewinne zu ignorieren und im Interesse der Allgemeinheit nur noch von ökonomisch sinnvollen Investitionen zu sprechen – Investitionen, die angesichts des realen Wirtschaftspotentials der ‘kreativen Industrien’ im Vergleich zu den lumpigen “Subventionen”, die wir den Künsten in der Vergangenheit zugestanden haben, in einer vollkommen anderen Größenordnung erfolgen würden.

( Anmerkung : Der Text ist eine Kurzfassung eines im Auftrag des Kommunalverband Ruhrgebiet in Essen im Dezember 1999/Januar 2000 geschriebenen längeren Beitrags, der schließlich abgelehnt, nie bezahlt und auch an anderer Stelle nicht veröffentlicht wurde )

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