die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 318
Autor Lindsay Kemp/Christopher Bruce
Ballett
Titel Cruel Garden
Ensemble/Spielort Ballet Rambert/Roundhouse/London
Hauptdarsteller Christopher Bruce & Lindsay Kemp; Bb: Ralph Koltai
Uraufführung
Sendeinfo 978.07.18/SWF Kultur aktuell/DLF/BR/Nachdruck: Darmstädter Echo

‘Grausamer Garten’ ist der Titel einer Zeichnung von Jean Cocteau, die Darstellung einer Stierkampfarena, in der die Blutflecken wie rote Blüten erscheinen. Das für das Ensemble des Ballet Rambert entworfene und im Rahmen einer neuen Aufführungsserie im Londoner Roundhouse vorgestellte Stück ‘Cruel Garden’ wird in die britische Theatergeschichte eingehen als eine der bedeutendsten tanztheatralischen Werke dieser Jahre; eine szenische Arbeit, die zum Besten gehört, was das Theater heute zu bieten hat; ein Werk von sinnlicher Schönheit und – im Bereich des Balletts außergewöhnlicher – gedanklicher Überzeugungskraft; ein Stück Tanztheater, das für mich als Erlebnis nur jener ersten Begegnung mit Marice Béjarts revolutionärer Ballettschöpfung ‘Symphonie pour un homme seul’ in den fünfziger Jahren vergleichbar ist.

‘Cruel Garden’ von Lindsay Kemp und Christopher Bruce überwindet die dem traditionellen Ballett gesetzten Grenzen durch Integration schauspieltheatralischer, pantomimischer, lyrischer und arioser Elemente, die sich hier nicht als ein Konglomerat verschiedener Kunstgattungen vorstellen, sondern im Werk selbst funktionale Bedeutung haben.

Das Stück ist dem Leben und Werk des spanischen Dichters Federico Garcia Lorca gewidmet, der im August 1936 während des Bürgerkriegs zwischen Faschisten und Republikanern ermordet wurde. Lindsay Kemp, Englands vielseitig begabter Schauspielerpantomime, entwarf die szenische Partitur des Stückes, das von Christopher Bruce , einem der beiden künstlerischen Leiter und führenden Solotänzer des Ballet Rambert, choreographiert und gemeinsam mit Kemp in Szene gesetzt wurde. Garcia Lorca erscheint darin als Künstler, der die Aufgabe übernommen hat, das Volk, dem er sich zutiefst verbunden fühlt, zurückzuführen zu den Ursprüngen seiner eigenen Kultur und zur befreienden Kraft der Imagination. Der Dichter wird zur Gestalt eines Lichtbringers im Kampf gegen die Mächte der Finsternis, die ihn zwar am Ende vernichten, doch sein Werk, seinen Geist nicht zerstören können. Nach Lorcas eigenen Worten: “Ich weiß, daß nicht der die Wahrheit hat, der ‘heute, heute, heute’ ruft und dabei sein Brot am Backofen ißt, sondern der, der mit heiterer Ruhe in der Ferne über den Feldern das Leuchten des neuen Tages sieht”.

Ralph Koltais Bühnenbild, das Halbrund der hohen Wände und Galerien einer Stierkampfarena, wirkt wie die natürliche Fortsetzung der architektonischen Gegebenheiten des Roundhouse, des gewaltigen, kreisrunden Holzbalkengebäudes, das für die Aufführungen des ‘Cruel Garden’ prädestiniert erscheint. Die Bühne ist Kampfplatz.

Andalusische Volksmusik stimmt auf spanische Atmosphäre ein, lange bevor das Stück beginnt – mit einem Tanz des Mondes, der als zierliche weiße Figur über die Holzwand in die Arena steigt und zu den geflüsterten Worten eines Lorca-Gedichtes verspielt über die nächtliche Szene rollt. Dunkle Figuren in langen Mantillen betreten die Bühne, Gejagte, mit angstvollen Blicken in die Richtung, aus der sie kommen. Ihnen folgt die bedrohliche Gestalt eines kahlköpfigen Inquisitors, dessen Lichteraugen als winzige Scheinwerfer ins Dunkel stechen. Er und sein Begleiter, eine finstere Erscheinung mit violettfarbenem Umhang und breitem Hut, nehmen auf der Balustrade Platz.

Im Hintergrund öffnen sich die Tore: Auftritt des Matadors in strahlendem Weiß. Die dunkle Gestalt an der Seite des Inquisitors steigt in die Arena hinab und verwandelt sich zum Stier, dem Inbegriff der Mächte der Finsternis, denen die Lichtgestalt des einsamen Matadors sich entgegenstellt, doch hier – nach herrlichen Augenblicken des Triumphes über die Gewalt des Bösen – unterliegt. Vier weiß gekleidete Frauen umtanzen den Toten mit klagenden Gebärden, ein langes Leichentuch in Händen, zur Melodie eines Trauerliedes. Die Pieta verwandelt sich zur Auferstehungsszene, die Bühne zum spanischen Café, dann zur Hochzeitsfeier, die mit Entführung der Braut durch einen Maskierten endet, getanzt vom Darsteller des schwarzen Stiers, hier in Gestalt des geheimnisvollen Liebhabers. Weiße Harlekine umspielen die Braut, Kinder des Volkes, die sie umarmt und liebkost. Maschinengewehrsalven zerstören die Idylle und töten die Spielenden.

Die Totenklage einer Mutter, die der Schmerz um den Verstand gebracht hat, leitet über zum Mittelteil des Stückes, der pantomimischen Darstellung eines Filmszenariums, das Garcia Lorca während seines Aufenthaltes in Amerika für Buster Keaton schrieb. Die USA erlebte der Dichter als Inbegriff des Destruktiven und Inhumanen. Ins Klagelied eines verhungernden Negers mischen sich die Klänge und Bilder der Selbstzerstörung des spanischen Volkes. Nach Hause zurückgekehrt, findet der Dichter nurmehr die Früchte des faschistischen Terrors und seinen eigenen gewaltsamen Tod. Mit der Niederlage des Einzelnen im Kampf gegen die Übermacht der Häscher einer blutigen Diktatur endet das Stück. Die Symbole des Dichters – der Mond, die Faszination der schönen, brutalen Geliebten, die Sinnlichkeit des schwarzen Stieres und über allem das Bewußtsein des Todes – überleben ihn.

Christopher Bruce als Darsteller der vier Gestalten, in denen die Hauptrolle erscheint, verdient das überschwengliche Lob der Kritiker, die ihn als einen der größten Tänzer und Choreographen Europas feierten, wie die stürmischen Ovationen, mit denen das Publikum sich allabendlich für eine unvergeßliche Leistung bedankte.

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