die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 34
Autor Steve Gooch/ William Shakespeare/ Charles Marowitz/ August Strindberg/ Henrik Ibsen/ John Osborne/ Maxim Gorki
Theater
Titel Theater in London/ Will Wat? If Not, What Will?/ Othello/ Miss Julie/ The Lower Depths
Ensemble/Spielort Half Moon Th./ Open Space Th./ Hampstead Th./ Act Inn Th./ Royal Court Th./ Royal Sheakespeare Company
Inszenierung/Regie Charles Marowitz
Hauptdarsteller Jill Bennett
Sendeinfo 1972.07.05/BBC German Service/ Gehört, Gesehen, Gelesen

Typisch für die oft ärgerliche Geringschätzung der Londoner Theaterkritiker gegenüber den kleinen Bühnen ist die Uraufführung eines Stückes von Steve Gooch, einem sensiblen, begabten jungen Autor, der sich vor allem durch seine Übersetzungen deutscher Theatertexte einen Namen machte und darum den Kritikern ein Begriff sein sollte. Das Stück ‘Will Wat? If Not, What Will?’ über den englischen Bauernaufstand von 1381 wurde in einem kleinen Theater im Osten der Stadt, dem Half Moon Theatre, uraufgeführt. Und obwohl die Kritiker aller Londoner Zeitungen zur Premiere eingeladen waren und das im vergangenen Jahr gegründete Half Moon Theatre schon durch seine früheren Inszenierungen sein künstlerisches Niveau bewiesen hatte, ignorierten die Londoner Zeitungen das Ereignis. Die Vorstellungen fanden wochenlang vor halb leeren Reihen statt. Erst als sich durch Mundpropaganda herumgesprochen hatte, daß es sich um ein wichtiges neues Stück und eine hervorragende Inszenierung handelte, erschienen die Herren der Wochenzeitungen und schrieben enthusiastische Kritiken, die man einen Tag nach der letzten Vorstellung des Stückes lesen konnte. Hunderte von Anrufern, die erst durch die Berichte der Zeitungen von dem Ereignis erfuhren, hatten das Nachsehen.

Im Open Space Theatre brachte Charles Marowitz nach der Wiederaufnahme seines berühmten Hamlet-Verschnitts nun eine neue Othello-Version, die wegen ihrer Respektlosigkeit gegen das Shakespearsche Original nicht nur dem Thema, sondern erstaunlicherweise auch der klassischen Vorlage neue Aspekte abgewann. Die wichtigsten Veränderungen: Jago ist schwarzhäutig, wie Othello, von dem er sich durch illusionslos realistische Einschätzung ihrer gesellschaftlichen Position unterscheidet sowie durch sein Engagement für die Befreiung seiner schwarzen Brüder aus der Knechtschaft der Weißen, denen Othello zu Diensten ist. Desdemona ist wirklich die Buhlerin, die Othello in ihr sieht: die Eifersucht ist berechtigt.

Als Pendant zu Marowitz’ ‘Othello’ präsentierte der Hampstead Theatre Club ein ins Milieu der amerikanischen Südstaaten verlagertes ‘Fräulein Julie’, frei nach Strindberg. Julie verfällt ihrem schwarzen Diener John. Das Stück endet mit Mord und dem Auftritt von Massa Nixon mit Maschinengewehr und Granaten.

Zwei Lunchtime-Theater-Inszenierungen – ‘Jinks’ von Amos Mokadi im Act Inn Theatre Club und ‘Eine Nacht mit Mrs. DaTanka’ von William Trevor im King’s Head Theatre Pub-Theater – zeigten bei kleiner Besetzung vor allem wieder schauspielerische Finesse und behutsame Regie.

Im Gegensatz zu diesen durchwegs interessanten, teilweise faszinierenden Darbietungen kleinerer Bühnen, ließen in der vergangenen Woche die beiden Premieren von Ibsens ‘Hedda Gabler’, neu bearbeitet von John Osborne, im Royal Court Theatre und Gorkis ‘Nachtasyl’ von der Royal Shakespeare Company den Wunsch nach zeitgemäßen Formen des Theaters offen.

“Ein scheußliches Stück“, schrieben die Kritiker, als ‘Hedda Gabler’ 1891 zum ersten Mal auf einer Londoner Bühne vorgestellt wurde. Auch in der neuen Fassung hat das Stück nichts von seiner ‘Scheußlichkeit’ eingebüßt, für mich leider auch nicht sonderlich viel gewonnen. Denn ‘Hedda Gabler’ bleibt so sehr ein Stück des vorigen Jahrhunderts, daß man die durch gesellschaftliche Konvention deformierten Charaktere wie ausgestorbene Tiere im naturhistorischen Museum betrachtet. John Osborne, der weiland zornige junge Mann, hat sich die revoluzzerhafte Gebärde, die ihn berühmt gemacht hat, abgeschminkt. Mit sorgfältig gestutztem Vollbart, gestreiftem Hemd mit scharlachroter Krawatte und schwarzer Samtjacke zeigte er sich dem Premierenpublikum, lange, dünne Zigarren rauchend und in Oscar-Wilde’scher Pose lässig blasiert den Schauspielern Beifall spendend.

Seine Hedda ist ein verwöhntes, grausam berechnendes weibliches Scheusal, das aus purer Langeweile und einem geradezu perversen Perfektionismus Unheil stiftet. In Jill Bennetts Darstellung sind die widerwärtigen Charakterzüge von Anfang an so offenbar, daß ihre Verehrer mit einfach unverzeihlicher Dummheit geschlagen sein müssen, um nicht zu erkennen, mit wem sie es zu tun haben. Was dann im Verlauf der Handlung geschieht, ist schon im ersten Akt so klar voraussehbar, daß man als Zuschauer selbst das Interesse am Wie verliert.

Einige neuere Inszenierungen, vor allem Kurosawas kongeniale Filmversion, haben bewiesen, daß Gorkis ‘Nachtasyl’ heute nicht nur von historischem Interesse zu sein braucht, dann nämlich, wenn man nicht bloß um ein orts- und zeitgetreues theatralisches Abbild der Zustände im Rußland der Jahrhundertwende bemüht ist, sondern das Stück auch als Spiegel von Verhältnissen versteht, die uns näher sind und darum den billigen Trost versagen, daß was auf der Bühne gezeigt wird uns nicht mehr unmittelbar angeht. Die verlumpten Tramps, die verkommenden Pennbrüder, die Diebe aus Not, die Straßenmädchen, Bettler und Säufer in Gorkis ‘Nachtasyl’ gehören zum Londoner Alltag von heute.

Von solcher Realität nicht angefochten, liefert die Royal Shakespeare Company eine konventionelle, pathetisch-theatralische Inszenierung von ‘Nachtasyl’, die nicht mehr vorführt als ein gutes Bühnenbild von Timothy O’Brien und die Fähigkeit der Schauspieler, auch aus den stillen Rollen dramatisches Kapital zu schlagen. Die Gesichter sind überschminkt, die Stimmen zu laut, die Sprache geht auf Kothurnen und die Glaubhaftigkeit verloren.

Fazit: Wenn ein Teil des Ruhmes, der den großen Theatern oft unverdient zufällt, auf die kleineren Bühnen übertragen werden könnte, dann hätte man ein nicht weniger eindrucksvolles, aber wahreres Bild der Londoner Theaterszene.

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