die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1996
Text # 286
Autor Harold Pinter
▶ Tonaufnahme/ Theater
Titel Ashes to Ashes
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Harold Pinter
Hauptdarsteller Lindsay Duncan/Stephen Rae
Uraufführung
Sendeinfo 1996.09.19/DR 1996.09.20/SWF Kultur aktuell/Nachdruck: Darmstädter Echo
Tonaufnahme ▶ Originaltonbeitrag

Harold Pinter greife auf “Urelemente des Dramatischen” zurück, schrieb Martin Esslin schon Anfang der Sechzigerjahre, als die ersten Stücke des jungen Londoner Autors gerade erschienen waren: “Eine Bühne, zwei Leute, eine Tür; ein poetisches Bild unbestimmter Furcht und Erwartung“. Auf die Frage, wovor sich die Menschen fürchten, hatte Pinter erklärt: “Offensichtlich vor dem, was außerhalb des Zimmers ist; vor einer Welt, die auf sie einwirkt, und das ist beängstigend“.

Auch Pinters jüngstes Stück ‘Ashes to Ashes’ (Asche zu Asche), uraufgeführt im Londoner Royal Court Theatre unter der Regie des Autors, greift zurück auf die einfachste szenische Konstellation: Zwei Menschen in einem Raum, dahinter ein hohes Fenster als Verbindung zur Außenwelt. Doch die Bedrohung scheint diesmal von innen zu kommen, aus dem Wissen von Verbrechen, die begangen wurden oder begangen werden und selbst den Schuldlosen, der davon Kenntnis hat, verwickeln.

Ein Mann und eine Frau sitzen in einem Zimmer und sprechen, weniger miteinander, als aneinander vorbei, um einander herum. Die Frau wirkt nach außen apathisch, wie betäubt nach einem Schock, traumatisiert, als wäre sie verfolgt von den Furien der Erinnerung an schreckliche Erlebnisse. Sehr langsam und schwer kommen die Sätze, scheinbar zusammenhanglos. Sie spricht von einem anderen Mann, mit dem sie verbunden war, irgendwann in der Vergangenheit. Er habe für eine Agentur gearbeitet, die Menschen beförderte. Einmal habe er sie mitgenommen in eine Art Fabrik, wo die Arbeiter weiche Kappen trugen, die sie bei seinem Erscheinen sich eilig vom Kopfe rissen, denn er sei dort eine Autorität gewesen.

Der Mann, dem sie dies alles berichtet, hört still und aufmerksam zu. Wenn sie schweigt, stellt er Fragen, die die Bruchstücke von Erinnerung verbinden, das Unverständliche klären helfen sollen.

Er will wissen, ob die Verbindung zu dem anderen, über die seine Frau nie gesprochen hat, vor ihrer Ehe lag oder ob sie ihm irgendwann untreu gewesen sei. Wann war sie in Dorset, als sie sah, wie auf einem Bahnsteig Babies aus den Armen ihrer schreienden Mütter gerissen wurden? Ihr damals Geliebter, so berichtet die Frau, habe ihr manchmal die Hände um den Hals gelegt und sie veranlaßt, seine Faust zu küssen.

Und er sei einer der Männer auf dem Bahnsteig gewesen, als das Furchtbare geschah.

Wann und wo, fragt ihr Mann, wurden Menschen durch Wälder getrieben, in ihren Untergang im eisigen Meer? Wo war sie, als sie den Koffer schleppenden Alten mit dem kleinen Jungen sah? Was bedeuten die Anspielungen auf Verbrechen, und was veranlaßt sie, was gibt ihr das Recht, jetzt darüber zu sprechen? Sie habe kein Recht dazu, sagt die Frau, denn ihr selbst sei nichts Böses geschehen, sie habe nichts erlitten.

Und doch spricht sie auf einmal, als habe sie selbst ein Baby auf ihren Armen getragen, ein kleines Mädchen, habe es vor den Männern auf dem Bahnsteig zu verbergen gesucht. Doch dann habe man das Bündel entdeckt und ihr weggerissen. Und sie sei in den Zug gestoßen worden und wurde “an diesen Ort” verbracht.

Eine Bekannte habe später gefragt: Was geschah mit Ihrem Baby? Und sie habe geantwortet: Welches Baby? Ich weiß von keinem Baby.

Mit diesen Worten endet das Stück. Und das Unbehagen, das wir empfinden, hat nicht nur mit der möglichen Betroffenheit des schuldlos oder schuldhaft Verwickelten zu tun. Es hat zu tun mit der Verunsicherung durch die Erinnerung an uns allen bekannte Verbrechen der Vergangenheit, ohne daß wir verstünden, was sie für uns jetzt und hier zu bedeuten haben.

Anders als in den Texten von Harold Pinter, die in den letzten acht Jahren entstanden, scheint die Bedrohung nicht von realen Gefahren der Gegenwart auszugehen, von Zuständen also, an denen wir beteiligt sind, die wir selbst mitgeschaffen haben und darum auch ändern helfen könnten, sondern von subjektiven Faktoren, von der psychischen Verheerung, die das Wissen um Verbrechen, das den Verantwortungsbewußten zur Identifikation mit den Opfern nötigt, im Einzelnen anrichten kann.

Der wie stets bei Pinter sprachlich meisterhaft, fast wie ein musikalisches Werk komponierte Dialog wird von den Schauspielern Lindsay Duncan und Stephen Rae unter der Regie des Autors nahezu ohne szenische Bewegung sehr behutsam und verinnerlicht gesprochen, mit virtuosem Timing der absurden Pointen des Wortwechsels. Doch weil der Text selbst keinerlei Brücken schlägt von der erinnerten Vergangenheit in die von uns verschuldete Gegenwart, bleibt statt der Motivation zur Selbstanalyse, zur Frage nach einer möglichen Mitchuld an den Untaten unserer Zeit nur Ratlosigkeit und ein Gefühl der Ohnmacht zurück.

 

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