die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1983
Text # 184
Autor Heiner Müller
Theater
Titel Quartett
Ensemble/Spielort Croydon Warehouse Theatre/London
Inszenierung/Regie Michael Batz
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1983.05.12/DLF 1983.05.13/SWF Kultur aktuell/RB/WDR/SFB/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

“Wie bös diese Zeiten waren! Welches niemals aussetzende Bewußtsein der Feindschaft von Mensch zu Mensch, welche Gefeitheit gegen jeden Anflug von Wohlwollen muß damals einem eigen gewesen sein ... Welcher Spätere konnte das fassen? Als einmal die alte Gesellschaft zersprengt war? Denn nur sie, mit ihrem unablässigen Aneinanderreiben der Eitelkeiten, war imstande, solche Gehirne zu bilden”. So schreibt Heinrich Mann 1920 in seiner Einleitung zur deutschen Übertragung des Romans ‘Les Liaisons dangereuses’ (Gefährliche Liebschaften) von Choderlos de Laclos. Das im Jahre 1782 erschienene, obszön gescholtene und lange Zeit verbotene Werk entlarvte die Obszönität der herrschenden Klasse einer Gesellschaft, die die Französische Revolution ein für alle Mal zersprengt zu haben schien.

Für Heiner Müller, dessen Schauspiel ‘Quartett’ auf die ‘Liasons dangereuses’ zurückgreift, wird die darin beschriebene unerbittliche Gier nach Macht über Menschen und die perverse Lust an ihrer sorgsam geplanten perfekten Vernichtung zur Metapher für unsere Gegenwart und Zukunft. Das unfaßbar Morbide jener ‘alten Gesellschaft’ hat die Schafotte der Revolution überlebt; in den Machinationen der Mächtigen von heute, die mit einer früher nicht vorstellbaren Perfektion den Mord von Millionen berechnen und, wie das teuflische Duo in Müllers ‘Quartett’, noch den eigenen Untergang als “Krone der Masturbation” zelebrieren – im menschenverachtenden Zynismus unserer politischen Führer, die die Apokalypse in eigene Regie übernommen haben, ist jene “dunkle Seite der Aufklärung” in seiner grausamsten Gestalt wiederauferstanden.

Das Croydon Warehouse Theatre, ein ehrgeiziges kleines Studiotheater im südlichen Randbezirk Londons, stellt Heiner Müller als “heute wohl bedeutendsten deutschen Stückeschreiber“ vor. Für den offenbar unausrottbaren Isolationismus der Briten ist es bezeichnend, daß man von “einem der wichtigsten Bühnendichter unserer Zeit” (wie es an anderer Stelle heißt) bisher so gut wie keine Notiz genommen hat. Nach der völlig mißlungenen Inszenierung von Müllers ‘Auftrag’ im Rahmen der verdienstvollen ‘German Theatre Season’ des Londoner Kellertheaters Soho Poly im vergangenen Jahr versucht die britische Erstaufführung von ‘Quartett’ mit einem neuen Heiner-Müller-Stück bekanntzumachen.

Michael Batz, ein vielversprechender, junger deutscher Regisseur, der seit einigen Jahren in England lebt und mit der Inszenierung von hierzulande noch unbekannten Werken kontinentaleuropäischer Autoren der kulturellen Borniertheit ein wenig auf die Sprünge helfen möchte, läßt ‘Quartett’ vor zerbrochenen, mit Seidenfetzen behängten und weiß bekalkten Spalierwänden und einem stufenförmig getürmten Aufbau aus allerlei Unrat als schaurig makabren, mitunter fast unerträglich grausamen und mit furiosem Crescendo endenden Totentanz spielen, in welchem die Partner als Opfer und Henker alternieren, bis sie im orgiastischen Taumel schließlich auch einander den Garaus gemacht haben.

Wiederum bezeichnend, daß zunächst nur eine einzige Londoner Zeitung die neue Heiner-Müller-Premiere zur Kenntnis nahm. Im ‘Guardian’ hieß es: “Nur der kühnste Stückeschreiber würde es wagen, zwischen sexueller Ausbeutung und atomarem Krieg eine Gleichung herzustellen, doch der Ostberliner Heiner Müller ist einer der kühnsten”. Die “futuristische Note” sei freilich “der schwächste Faden” des dramatischen Gewebes.

Der Eindruck, Müllers Sprache fehle die Dimension des äußersten Schreckens, der Laclos’ Leser erreiche, verrät nur die Schwächen einer zwar wörtlich genauen, doch im Vergleich zum Original etwas prosaisch wirkenden Übertragung von Karin Gartzke und deutet auf die mit der sehr jugendlichen Besetzung der Merteuil verbundenen Schwierigkeiten, dieser auch bei Müller dominierenden weiblichen Verkörperung des Bösen, über die Heinrich Mann seinerzeit schrieb: “ Nie war das Böse heftiger als in der Merteuil; und da für die Kunst Intensität alles ist, kann man zu dem Glauben kommen, die Merteuil sei eine der großen Gestalten der Weltliteratur”.

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