die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1988
Text # 239
Autor Stephen Lowe
Theater
Titel Divine Gossip
Ensemble/Spielort Royal Shakespeare Company/The Pit/London
Inszenierung/Regie Barry Kyle
Uraufführung
Sendeinfo 1988.10.15/SWF Kultur aktuell/DLF/RIAS 1988.10.17/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo 1988.10.21/HR (teilw.)

“Das Schauspiel gebraucht und mißbraucht Geschichte zu eigenen Zwecken“, schrieb Toms Stoppard, als die Royal Shakespeare Company vor vierzehn Jahren sein Stück ‘Travesties’ zur Uraufführung brachte. – “Eine faszinierende Mischung aus Wahrheit und wilder Spekulation“, hieß es in einer Vorankündigung zur Premiere des Stückes ‘Devine Gossip’ (Himmlischer Klatsch) von Stephen Lowe, das in diesen Tagen im kleinen Theater der Royal Shakespeare Company The Pit mit dem Hinweis vorgestellt wird: Klatsch sei die Inspiration dieses Stückes gewesen, darum sei es als “reine Fiktion” zu verstehen.

Wie Stoppard weiland drei berühmte historische Gestalten – James Joyce, Lenin und Tristan Tzara – die zur Zeit des ersten Weltkriegs in Zürich lebten, doch in Wirklichkeit kaum Notiz voneinander nahmen, zusammenbrachte und aus Tatsachen, literarischen Zitaten, privaten Äußerungen und Gerüchten einen frivolen Cocktail zu quirlen verstand, den einige köstlich, andere eher geschmacklos fanden, hat nun Stephen Lowe den sterbenden D.H. Lawrence, einen jungen Engländer namens Erik Blair, der später als George Orwell berühmt werden sollte, und ein paar andere, heute kaum noch bekannte Figuren der Welt der Literatur und Kunst im Jahre 1929 in Paris versammelt und aus biographischen Fakten und kuriosen Erfindungen eine Art surrealistisches Cabaret gemacht, das mit den Themen Tod und Auferstehung, Liebe und Sexualität, Leiden und Leidenschaft spielt und wie ein bizarrer Traum erscheint, der Schauplätze und Personen durcheinanderwirbelt, die unglaublichsten Begebenheiten in Szene setzt und dabei zwar gewisse Motive, aber alles in allem keinen tieferen Sinn erkennen läßt.

Die drei männlichen Protagonisten – Lawrence, Blair und der amerikanische Playboy, Dichter und Verleger Harry Crosby – haben nichts miteinander gemein, außer der Tatsache, daß alle drei schon in relativ jungen Jahren starben (Lawrence und Blair alias Orwell an Tuberkulose, Crosby durch Selbstmord), und einer seltsamen Sehnsucht nach ‘Auferstehung’, ein Verlangen, das bei Lawrence zwar auch von religiösen Vorstellungen begleitet ist und bei Blair wohl zunächst einmal als Hoffnung auf literarischen Erfolg gedeutet werden muß, hier aber vor allem auf die Erfüllung fleischlicher Lüste gerichtet zu sein scheint; wobei der Pariser Prostituierten, mit der Orwell (down and out in Paris) für eine Weile zusammenlebte, bis sie mit allem, was er besaß, spurlos verschwand, – ihr also, der schönen Angélique, die in Notre Dame beim Anblick des gekreuzigten Jesus in sexuelle Ekstase gerät, die davon träumt ein Filmstar zu werden, und sich im zweiten Teil des Stückes wahrhaftig in Louise Brooks verwandelt, der hier eine Hauptrolle zufällt, die auch die anderen weiblichen Wesen, die in den ‘Auferstehungs’-Mythen der Männer eine gewisse Bedeutung haben – Frieda, die germanische Muse des Mr Lawrence, und Caresse Crosby, die seine Büste modelliert – nicht streitig machen können.

Einem berühmten Vorbild (den Fernsehfilmen ‘Pennies From Heaven’ und ‘The Singing Detctive’ von Dennis Potter) folgend, hat Regisseur Barry Kyle den Personen erlaubt, von Zeit zu Zeit in Gesang auszubrechen und das, was sie bewegt, durch eines der populären Lieder der Zwanzigerjahre mitzuteilen. Wie es überhaupt schwer ist sich vorzustellen, was aus dem doch recht obskurem Schauspiel geworden wäre, hätte man es nicht so gekonnt und einfallsreich auf die Bühne gebracht, mit verblüffenden theatralischen Tricks, wobei man die spektakuläre Szene, in welcher der sterbende D.H. Lawrence in seinem gestreiften Pyjama mit ausgebreiteten Armen starr wie ein Gekreuzigter auf ein Bett gelegt und von einem Koch enthauptet wird und man zwei Sekunden später den abgetrennten, singenden Kopf des Dichters seiner Frau Frieda auf einer Silberplatte serviert, so bald nicht vergessen wird.

Die meisten der Londoner Kritiker ließen sich von solchem Zauberwerk nicht täuschen; sie durchschauten das Spiel, schalten es einen Versuch mit tauglichen Mitteln am untauglichen Objekt und verstanden den “himmlischen Klatsch” als herrlichen Quatsch.

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