die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1977
Text # 313
Autor Hans-Jürgen Syberberg
Film
Titel Hitler – Ein Film aus Deutschland
Ensemble/Spielort London Film Festival
Inszenierung/Regie Hans-Jürgen Syberberg
Uraufführung
Sendeinfo 1977.12.09/WDR (Kurzfassung) 1977.12.10/Darmstädter Echo

‘Hitler - Ein Film aus Deutschland’ von Hans-Jürgen Syberberg ist ein gewaltiges Werk in vier Teilen und zweiundzwanzig Kapiteln mit einer Gesamtspieldauer von sieben Stunden, ein Film über Deutschland, den Deutschen gewidmet, doch uraufgeführt im Ausland, in der britischen Hauptstadt während des 21. Londoner Filmfestivals. Der nach fünfjähriger Planung in nicht mehr als zwanzig Drehtagen aufgezeichnete Farbfilm kostete eine Million Mark, eine sehr bescheidene Summe, die gemeinsam vom Deutschen Fernsehen und von der Bundesregierung aufgebracht wurde. Coproduzenten waren die BBC und das Französische Fernsehen.

Syberberg ist im Groll aus Deutschland geschieden, weil sich “die vereinigten deutschen Filmkritiker” während der Filmfestspiele in Cannes, als ein kleiner Ausschnitt des monumentalen Werkes vorgestellt wurde, zu einem Boykott entschlossen: Sie blieben der Vorführung fern und schwiegen das Ereignis tot. Syberberg hielt es daraufhin für richtig, den Film zunächst nur im Ausland zu zeigen, und begründete diesen Entschluß in einem 16 Seiten langen Offenen Brief an alle überregionalen westdeutschen Zeitungen, den keine einzige von ihnen (auch nicht auszugsweise) druckte. Bis sich ein deutscher Verleiher für den Vertrieb des Filmes findet, wird er nur in England, Frankreich, Belgien, Österreich, Italien und anderen Nachbarländern zu sehen sein.

‘Hitler’ ist Syberbergs letzter Beitrag zu einer Reihe, die mit ‘Ludwig II’ und ‘Karl May’ begann und (über das Filminterview ‘Winefred Wagner’) sich der Figur des Mannes zu nähern versucht, in dem die früheren – Ludwig von Bayern, Karl May und, allen voran, Richard Wagner – nach Ansicht des Autors zur mystischen Einheit verschmelzen: Adolf Hitler, der, wie Syberberg glaubt, in uns weiterlebt und weiter wirken wird, bis wir Abrechnung gehalten haben mit ihm, mit uns, unserer Vergangenheit und unserer Gegenwart.

Im Unterschied zu dem Hitler-Film von Fest, der dokumentarisierend den Aufstieg und Untergang des nationalsozialistischen Deutschland und seines Führers zu belegen versucht, ist Syberbergs ‘Hitler’ “eine Reise ins Innere unserer selbst“, ein Spiel der Phantasie, bohrende Selbstbefragung, die verzweifelte Suche nach dem nationalen Ich, die Frage nach dem Geist unserer Zeit. Denn (so heißt es im Film) “wir haben sein Erbe angetreten“.

Richard Wagner, Ludwig II, Karl May und Hitler – was sie verbinde, sei die Liebe zu Deutschland und die mythische Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Hitler – “ein Liebender Deutschlands, und Deutschland war er selbst“, vergotteter Führer eines Volkes, das zu titanenhafter Größe drängt, eine Philosophie erfindet, ja im Grunde nur weiterdichtet, in welcher die Begriffe Blutopfer, Erlösung, Herrschaft, Rasse mythologische Bedeutung haben, die Vorsehung den neuen Menschen schafft, der die Mächte der Finsternis bekämpft mit flammenden Schwert bis zum triumphalen Endsieg oder zum triumphalen Untergang.

Syberberg geht davon aus, daß kein einzelner Schauspieler diesen Hitler im Film verkörpern könne, also läßt er ihn repräsentieren von allen; Hitler ist überall, jeder von uns sein kleiner Hitler: Hitler als Chaplin, Hitler als Anstreicher, Hitler als Gralssritter, Hitler als Teppichfresser, Hitler als Napoleon, Hitler als Hamlet – vor allem aber Hitler als Mensch, einer wie du und ich.

In einem Interview sagt Syberberg: “Hitler zu vergeben ist Aufgabe der Trauernden. Was nicht auch heißt, gut von ihm zu sprechen, zu behaupten, er sei’s nicht gewesen. Aber wir sollten versuchen, die Schmach ein wenig zu reduzieren, die Schuld zu verteilen, die kollektive Schuld, die nach dem Krieg keiner übernehmen wollte“. Im ersten Teil des Filmes heißt es: “Nur die Niederlage der Waffen, nicht Vernunft haben uns veranlaßt, uns von ihm abzuwenden”.

Nach der Flut der Worte (schier endlose Monologe, die tastend, erinnernd umschreiben, was Hitler uns war, uns ist), der Flut der Bilder und Töne dieser verinnerlichten Suche nach dem deutschen Wesen: der Spruch über der verhängnisvollen Gegenwart, die unter dem Bann der alten, mythologisch fundierten Ideen – unter anderen Vorzeichen, versteht sich – weiterzuleben scheint.

Wer will das wissen? Wundert da eigentlich noch die, wie mir scheint, durchaus zeitgemäße Reaktion der Betroffenen auf einen Film, den der Autor mit den Worten signiert “20. Oktober 1977, nach Mogadischu, Stammheim und Mülhausen”? Mit der Vorstellung “Hitler kann sich ins Fäustchen lachen, er hat seinen Kampf gewonnen“ provoziert der Film die Frage nach der tiefer liegenden Berechtigung solcher Kritik. Er versucht, in Bruchstücken der erinnerten, verinnerlichten Erfahrung unsere eigene Geschichte erkennbar, verstehbar zu machen. Er spricht in Bildern und Worten, die uns vertraut sind und doch ganz fremd erscheinen, unglaublich, weil mit Tabus belegt, vor deren Berührung wir uns scheuen.

Syberbergs ‘Hitler’-Film ist anstößig, schwierig, schwer verdaulich und künstlerisch höchst problematisch, aber ein ehrliches und mutiges Werk, an dem wir nicht vorbeigehen können, ein Film, mit dem wir uns auseinandersetzen sollten.

Inzwischen liegen die Berichte der Londoner Filmkritiker vor. Die Zeitung ‘Daily Mail’ erschreckte ihre Leser mit der Überschrift ‘Hitler in London’: “Ist der Mann, der ihn uns brachte, diesmal zu weit gegangen?”. Im Folgenden heißt es, Syberberg gebe durchaus nicht den Eindruck eines Exorzisten, doch es sei sein erklärtes Ziel, unserer Zeit den Teufel auszutreiben. In Cannes habe man ihn offen einen Nazi gescholten. Und die Zeitung zitiert: “Vielleicht werden die Leute, die das Geld haben, diesmal erklären: Es reicht uns, das werden wir uns nicht noch einmal bieten lassen“, meint Syberberg, “doch ich mußte diesen Film machen. Es war eine Reise durch die Hölle und ich mußte sie machen, um zu sagen was ich zu sagen habe”.

Im ‘Guardian’ las man, von den beiden Mammutfilmvorhaben des diesjährigen Festivals – Bertoluccis ‘1900’ und Syberbergs ‘Hitler’ – habe das letztere ohne Zweifel den weitaus stärkeren Eindruck hinterlassen. Der anhaltende Beifall nach Syberbergs Siebenstundenepos habe im klaren Gegensatz gestanden zu dem Schweigen nach Bertoluccis Film. “Man hatte das Gefühl, der Erstaufführung eines historischen Filmdokumentes beizuwohnen”. Das einzelgängerische Unternehmen sei “eine streitbare, leidenschaftliche und pessimistische Analyse der europäischen Kultur im 20. Jahrhundert sowie des Teufels in uns allen, den wir bequemerweise Hitler nennen”.

Der Filmkritiker der ‘Times’ nannte Syberbergs Film schlicht “das große Ereignis des Londoner Festivals”. Da die BBC als Coproduzent beteiligt gewesen sei, werde man den Film vermutlich irgendwann auf der Mattscheibe sehen. Ob man sich jedoch getrauen werde, ihn in voller Länge zu zeigen, bleibe abzuwarten. Tollkühn wäre freilich (so meint der Schreiber), wer es sich zumuten würde, diesen poetischen Essay über die Psyche einer Nation selbst zu beschneiden.

Auch in der ‘Financial Times’ hieß es, trotz gewisser Längen sei dies “der spektakulärste und originellste Beitrag zur Auseinandersetzung mit Hitler“, den der Film uns beschert habe. “Kein Regisseur unserer Zeit außer Syberberg würde eine Expedition solcher Größenordnung gewagt haben“. Am Schluß rät der Berichterstatter seinen Lesern, unverzüglich an die BBC zu schreiben: “Sagen Sie, Sie möchten den Film sehen, sagen Sie, Sie möchten ihn bald sehen, und sagen Sie, Sie möchten ihn ganz sehen, ungekürzt”.

Der Referent der ‘Sunday Times’ spricht mit ähnlicher Begeisterung, glaubt jedoch, daß der Film auf der kleinen Scheibe von seiner “spektakulären Originalität” viel verlieren würde. “‘Hitler – Ein Film von Deutschland’ bewegt sich langsam, wie im Zeitlupentempo eines Riesenrads, aber er wirft eine endlose Folge brennender Fragen auf, deren Nachhall man sich schwerlich entziehen kann”.

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