die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1979
Text # 319
Autor Wallace Shawn
Theater
Titel Marie and Bruce
Ensemble/Spielort Theatre Upstairs/Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Les Waters
Hauptdarsteller Stephanie Fayerman/Philip Donaghy
Uraufführung
Sendeinfo 1979.07.17/SWF Kultur aktuell/DLF, RB 1979.08.25/Darmstädter Echo

Als die ‘Joint Stock Theatre Group’ vor zwei Jahren drei Einakter des amerikanischen Autors Wallace Shawn unter dem Titel ‘Ein Gedanke in drei Teilen’ im Londoner Institut für zeitgenössische Kunst vorstellte, gab es einen Theaterskandal. Selbst die (doch einigermaßen aufgeklärten) englischen Kritiker waren erschrocken über das Maß der Freizügigkeit in der Darstellung zahlloser Kopulationen; man sprach von Pornographie. Vier der besten Theaterautoren des Landes – Howard Brenton, Caryl Churchill, David Hare und Barrie Keeffe – warfen sich mit einem Offenen Brief für den amerikanischen Kollegen in die Bresche: “Wir halten ihn für einen Schriftsteller von außergewöhnlichem Talent, der hier mit großem sprachlichen und theatralischen Vermögen die Phänomene Liebe und Sex untersucht und sich dafür geistlose und prüde Beschimpfungen gefallen lassen muß”. Der Ruf der in ihrem Schamgefühl Verletzten nach dem Eingriff der Polizei und der Gerichte sowie der Antrag eines Parlamentsabgeordneten, man möge dem Institut für zeitgenössische Kunst die öffentlichen Zuschüsse sperren, konnten gottlob keinen größeren Schaden stiften.

Die Uraufführung des Stückes ‘Marie and Bruce’ von Wallace Shawn im Londoner Theatre Upstairs bietet in dieser Hinsicht nichts Anstößiges, doch sie bestätigt die Meinung derer, die Shawn für eine große Begabung halten. ‘Marie and Bruce’ ist ein ungewöhnliches Stück, fast ohne dramatische Handlung, im ganzen knapp anderthalb Stunden lang, die ich im höchsten Maße vergnüglich und lehrreich fand, obwohl sein Thema – der Zusammenbruch einer Ehe – nun wirklich alles andere als erfreulich ist.

Es ist die Art und Weise, wie uns die beiden neurotischen Wesen vorgeführt werden, ihr extremes Verhalten – die skatologischen Beschimpfungsarien und schrillen Ausbrüche der Frau, das provozierende Phlegma des Mannes – sowie in diesem Fall das virtuose Spiel der Darsteller, die uns bei der Sache halten und, außer dem Spaß an der minutiös beobachteten Studie zweier im wahrsten Sinne Verrückter, uns Einblicke geben in unser absurdes Verhalten im eigenen Milieu.

Marie gibt Bruce zu verstehen, daß sie ihn verlassen will. Sie beschimpft ihn, verflucht ihn, geilt sich auf an der eigenen Wut, bis sie regelrecht außer sich ist, um in der nächsten Sekunde im abgeklärt ruhigen Tonfall dem Publikum mitzuteilen, was vorher oder nachher geschah und warum sie das Häuflein Elend, das da schlaftrunken neben ihr liegt, für den allerletzten Dreck auf dieser Erde hält, während er mit unbeschreiblichem Mienenspiel stumm oder wortkarg, hilflos besänftigend, verstört oder listig-verschlagen die hysterische Schimpfkanonade über sich ergehen läßt.

Auf einer Houseparty bei Freunden sind sie umringt von gleichermaßen selbstbesessen monologisierenden Paaren, die sich über die absurdesten Dinge streiten und stundenlang aneinander vorbei reden. Marie und Bruce weichen aus in ein Restaurant, um endlich ungestört das alles entscheidende Gespräch führen zu können. Doch am Nebentisch gibt einer dem Nachbarn so detailliert Auskunft über Probleme seines Verdauungstrakts, daß selbst der schüchterne Bruce sich zur Aktion gedrängt sieht. Marie erklärt zum tausendsten Mal, wie abscheulich sie ihren Ehemann findet – er schweigt. Man trinkt viel, begibt sich auf den Heimweg und fällt erschöpft gemeinsam ins Bett.

Shawns Stück liefert eine neue Variante zu Sartres These: Die Hölle, das sind die anderen. Was jenseits dieser Hölle des unerträglichen, doch gleich wohl ertragenen Zusammenlebens liegt oder doch liegen könnte, meldet sich in den direkt ins Publikum gesprochenen Berichten über Wunschtraumphantasien, die einer kindhaften Märchenwelt zugehören, von der die Welt, in der Bruce und Marie und vielleicht auch wir selbst in Wirklichkeit leben, nichts mehr weiß.

Ich fürchte, das Stück enthält bei aller Absurdität mehr Wahrheit über unsere Zeit und den Verfall der menschlichen Sitten bis zur totalen Unfähigkeit der Kommunikation, als uns lieb sein kann. Unter der behutsam intelligenten Regie von Les Waters sorgen Stephanie Fayerman und Philip Donaghy in den Titelrollen für einen originellen und, wie gesagt, höchst vergnüglichen Theaterabend.

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