die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1971
Text # 14
Autor Chris Wikinson
Theater
Titel I was Hitler’s Maid/Plays for Rubber Go-Go-Girls
Ensemble/Spielort Soho Theatre/Portable Theatre/Hampstead Theatre Club/London
Inszenierung/Regie Chris Wilkinson
Neuinszenierung
Sendeinfo 1971.08.20/BBC German Service/Kulturkaleidoskop

Der 21-jährige Chris Wikinson macht als Autor von zwei Stücken von sich reden, die zurzeit in London aufgeführt werden; genauer gesagt, handelt es sich um ein szenisches Gebilde in abendfüllender Länge mit dem Titel “Ich war Hitlers Maid“ und ein aus vier Kurzstücken bestehendes Programm mit dem Titel “Spiele für Gummi-Go-Go-Girls’ (“Go-Go-Girls”, das sind Mädchen, die wie aufgezogene Puppen in bestimmten lokalen zur Unterhaltung der Gäste tanzen).

‘Hitler’s Maid’ läuft in des Autors eigener Inszenierung im Soho Theatre, das sich unter den zahlreichen Kleinstbühnen der Stadt inzwischen einen besonderen Ruf erworben hat. Erst vor wenigen Wochen brachte das Soho-Theater, das im Hinterraum eines Gasthauses im Stadtteil Islington sein Domizil hat, bereits ein anderes Stück von Chris Wilkinson zur Aufführung. Es hieß ‘Dynamo’ und beschrieb in ebenso grausamer wie erotisierender Weise ein Striptease, das es nicht mit der bloßen Entkleidung bewenden lässt, sondern auch das Seeleninnere aufzudecken versucht. Mit ‘Dynamo’ gastiert das Soho-Theater bei den diesjährigen Festspielen in Edinburg. Ebenfalls nach Edinburg eingeladen wurde die Londoner Inszenierung der ‘Plays for Rubber Go-Go-Girls’, die von einer anderen kleinen Bühne, dem Portable Theatre, zunächst im Oval House gezeigt und dann in neuer Version in den Hampstead Theatre Club übernommen wurde.

Die sogenannten ‘Spiele für Gummi-Go-Go-Girls’ sind vier ziemlich gleichartige Szenen, die verschiedene faschistische und faschistoide Verhaltensmuster von heute bezeichnen: die erbärmliche Glorifizierung der nach Comic-Strip-Vorbildern aufgebauten Revolverhelden; die skrupellose Feindpropaganda, die die jeweiligen Gegner stets als entmenschte Bestien darzustellen versucht; die ebenso primitive, wie raffiniert ausgedachte verharmlosende Schönfärberei und Verschleierung der wahren Lage; die sado-masochistischen Techniken der Folterknechte und Henker und der untergründige Zusammenhang zwischen Aggression und Sexualität. Die Szenen bestehen aus banalen Dialogen und albernen Handlungsabläufen im Stil jener Schundliteratur, die in unvorstellbarer Auflagenhöhe tagtäglich über Zeitungskioske und Bücherläden an den Mann gebracht wird. Wie in der Kürzelwelt der Cartoons werden die Vorgänge durch plakative Gesten und stereotype Phrasen ohne moralisierende Kommentare des Autors nur angedeutet. Die bloße Darstellung der Auswüchse einer Plastikmentalität, die als Amerikanismus die Menschheit heimsucht, soll genügen, den Zuschauer, der sich noch sicher fühlt, das Fürchten zu lehren.

Wenn dies der Aufführung im Hampstead Theatre Club nicht gelang, lag es sowohl an der etwas einfältigen Darstellung als auch an den Texten selber, die – wenigstens äußerlich – so weit vom realen politisch-ideologischen Hintergrund abgezogen erscheinen, daß sie unfreiwillig harmlos und darum witzlos und läppisch wirken.

Ganz anders dagegen bei Wilkinsons Vierpersonenstück ‘I Was Hitler’s Maid’, das gemeinsam mit den beteiligten Schauspielern im Sheffield Playhouse erarbeitet und dann in London vorgestellt wurde. Im selben Geist entstanden und offenbar mit gleicher Zielsetzung, der Entlarvung von Gewalt als sexueller Perversion, bietet es so viel Abscheu erregend realistisch ausgespielte Bestialitäten, daß dem empfindsameren Zuschauer Hören und Sehen mehr oder minder vergeht, damit aber auch die Voraussetzung zum kritischen Nachdenken. Was von den handelnden Personen – eine Frau und drei Männer – im Laufe des Abends wirklich in Worten gesagt wird und ihre jeweilige Funktion im hektischen Getriebe näher bestimmt, wird durch die Abscheulichkeiten, die man unmittelbar vor der eigenen Nase geschehen sieht, bis zur Unverständlichkeit reduziert. Da gibt es wohl ein Dutzend tierisch brutale Kopulationen in allen erdenklichen Varianten; einem weiblichen Opfer werden Schenkel, Bauch und Busen aufgeschlitzt und das Herz herausgerissen, dann von dem plötzlich eingreifenden Rächer dem Peiniger selbst in den Hals geschoppt, bis es sich realiter vor die Füße der Zuschauer erbricht, die auf den Tischen noch die Teller der soeben beendeten Abendmahlzeit vor sich haben. Wenig später wird eine Kastration vorgenommen, bei welcher das Weib, das sie besorgt, ihrem Opfer die realistische Nachbildung eines männlichen Organs aus dem Hosenlatz zieht.

Unter der Regie des Autors agieren die vier Darsteller mit viel Mut, mimischem Talent und einer Präzision, die beim oft chaotisch wirkenden Durch- und Übereinander, sowie wegen der häufigen Wiederholung ähnlicher Szenenvorgänge Bewunderung verdient.

‘Ich war Hitlers Maid’ und die ‘Spiele für Gummi-Go-Go-Girls’ sind thematisch und in der dramatischen Absicht eng verwandt. Die simultan laufenden Inszenierungen jedoch wirken grundsätzlich so verschieden, daß sie als Schulbeispiele für junge Theaterleute dienen könnten: Während die Inszenierung der ‘Go-Go-Girls’ durch Abstraktion und Stilisierung blutleer, scheinbar realitätsfremd und darum eindruckslos bleibt, schlägt die schockierend realistische Darstellung des anderen Wilkinson-Stückes die kritische Aufmerksamkeit der Zuschauer derart in den Bann, daß auch in diesem Fall der gewünschte kathartische Effekt ausbleibt. Die Botschaft, die mitgeteilt werden soll, kommt trotz bester Absicht nicht an.

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