die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 122
Autor Henrik Ibsen
Autorenporträt
Titel Pillars of Society/Rosmersholm/Hedda Gabler/John Gabriel Borkman
Ensemble/Spielort Royal Shakespeare Company/Haymarket Theatre/Duke of Yorks Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie John Barton/Peter Hall
Hauptdarsteller Ian McKellen/Claire Bloom/Jill Bennett/Glenda Jackson/Janet Suzman/ Ralph Richardson/Peggy Ashcroft/Wendy Hiller
Sendeinfo 1978.03.17/SRG Basel

Seit William Archer, Ibsens Freund und Übersetzer, die Stücke des skandinavischen Dichters in England bekannt machte, sind sie ein fester Bestandteil des klassischen Theaterrepertoires gewesen. Durch die Auseinandersetzung mit der viktorianischen Gesellschaft, deren Spuren sich in vielen Lebensbereichen bis heute erhalten haben, scheint das Interesse an Ibsens Stücken hier in den letzten Jahren gewachsen zu sein. Sofern das Urteil der offiziellen Kritik auch Ausdruck des allgemeinen Empfindens ist, darf man vermuten, daß Henrik Ibsen in England noch immer als einer der größten Bühnendichter aller Zeiten gilt, man sich jedoch vor jeder neuen Begegnung mit einem Werk des Meisters zunächst einmal scheut, um anschließend zu bestätigen, man habe die Bedeutung des Stückes (oder, zumindest, einige seiner Aspekte) wie die Größe des Autors wieder einmal neu entdeckt. Typisch für diese offenbar wiederkehrende Erfahrung ist der erste Satz aus einer Rezension des vergangenen Jahres zu einer Neuinszenierung des ersten Ibsen-Stückes, das im Jahre 1877 nach England kam, ‘Die Stützen der Gesellschaft’. Da heißt es: “Ich ging am Montag ins Aldwych Theatre mit der halben Erwartung, die liebevolle Rekonstruktion eines Museumsstückes zu sehen. Was ich dagegen fand, war eine Offenbarung“.

Immerhin, Ibsens Stücke werden in England gespielt und haben, trotz jenes düsteren Vorurteils, sie seien problematisch und in vieler Hinsicht verstaubt, uns offenbar immer noch etwas zu sagen. Und wem die Auseinandersetzung mit Heuchelei und Lebenslüge heute nicht mehr von brennender Bedeutung erscheint, dem bieten die Stücke eine ganze Welt großartig differenzierter Charaktere, die das Herz jedes Theaterenthusiasten höher schlagen lassen.

Ibsens ‘Stützen der Gesellschaft’ kamen nach fünfzig Jahren im vorigen Sommer erstmals wieder auf eine Londoner Bühne, in einer Inszenierung der Royal Shakespeare Company unter der Regie von John Barton, mit Ian McKellen in der Rolle des Konsuls Bernick. Die englischen Kritiker waren hellauf begeistert. Einer von ihnen schrieb: “Es ist höchste Zeit, daß Ibsen als der revolutionärste Stückesschreiber seit Euripides anerkannt wird”.

Bei solcher Wertschätzung bleibt es einigermaßen erstaunlich, daß eine ganze Reihe von Stücken, die zum klassischen Repertoire der deutschsprachigen Bühnen gehören, in den letzten Jahren in England nicht gespielt wurden. Dazu gehören u.a. ‘Gespenster’, ‘Die Wildente’, ‘Ein Volksfeind’ und ‘Nora - Ein Puppenheim’. Stattdessen brachte man im Herbst des vergangenen Jahres Ibsens Schauspiel ‘Rosmersholm’ mit Claire Bloom in der weiblichen Hauptrolle im Haymarket Theatre zur Aufführung. Und das Nationaltheater wird im April mit einer Neuinszenierung des Frühwerkes ‘Brand’ des 150. Geburtstages des Dichters gedenken.

Das in England bei weitem populärste Ibsen-Stück ist ‘Hedda Gabler’. Daß es öfter als jedes andere Werk des Autors in immer wieder neuer Besetzung aufgeführt wurde, ist wohl vor allem der Attraktivität seiner Titelrolle zu verdanken, jener Traumrolle, die einer selbstbewußt intelligenten Schauspielerin so viel Möglichkeiten gibt, mit ihren darstellerischen Mitteln zu brillieren. “Ein scheußliches Stück”, schrieben die Kritiker, als ‘Hedda Gabler’ 1891 zum ersten Mal auf eine Londoner Bühne kam.

Ich muß gestehen, daß ich – selbst nach einem guten halben Dutzend bedeutender ‘Hedda’-Darstellungen – das Mißvergnügen der Kollegen noch immer nachfühlen kann. Es gehört für mich zu den Werken, deren durch gesellschaftliche Konvention deformierte Charaktere man wie ausgestorbene Tiere im naturhistorischen Museum betrachtet. Ob nun Jill Bennett die Titelrolle spielt (wie 1972 in der Aufführung des Royal Court Theatre) oder Glenda Jackson (wie in der Inszenierung der Royal Shakespeare Comapny 1975) oder die schöne Janet Suzman (im vergangenen Jahr im Duke of York’s Theatre) – Hedda bleibt das verwöhnte, grausam berechnende weibliche Monster, das aus Langeweile und Abscheu vor ihrer Umwelt Unheil stiftet. Mangelt es den Darstellerinnen überdies an körperlicher Schönheit und weiblicher Attraktivität (wie das denn häufiger der Fall ist), wirkt die Figur im Verhältnis zu ihren männlichen Partnern gänzlich unglaubhaft. Das Werk wird reduziert zum Bravourstück eines weiblichen Stars, dem sich die anderen nur noch als Nebenrollen zuordnen dürfen (ein Vorwurf, der sich nicht so sehr gegen den Text selbst, als gegen die herrschende Aufführungspraxis richtet). Das Publikum, das Starttheater gehobener Qualität zu sehen wünscht, kommt dabei meistens auf seine Kosten. Daß sich dafür der mit einer solchen Inszenierung verbundene theatralische Aufwand lohne, wird allgemein als selbstverständlich vorausgesetzt.

Ganz anders dagegen, wenn sich eine Anzahl bedeutender Schauspieler mit einem Regisseur zu einer gemeinsamen Leistung verbinden, die den dichterischen Gehalt eines Werkes auf der realistischen wie der symbolischen Ebene schlagartig lebendig macht. Eine solche Sternstunde brachte Peter Halls Inszenierung des Stückes ‘John Gabriel Borkman’, mit der im Januar 1975 das neue Gebäude des Nationaltheaters eröffnet wurde. Mit Ralph Richardson, Peggy Ashcroft und Wendy Hiller in den tragenden Rollen wirkte das Werk wie die Beschreibung eines Kampfes dreier Titanen. Kritiker und Publikum waren hingerissen von der schauspielerischen Brillianz und Peter Halls schnörkelloser, zeitgemäßer Inszenierung, die uns modellhaft vorführte, wie Ibsen heute gespielt werden kann.

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