die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1981
Text # 325
Autor Conrad Atkinson
Ausstellung/ Kulturpolitik
Titel At The Heart of the Matter/For Wordsworth-For Shelley/Economics and Ideology/ For Wordsworth-For West Cumbria
Ensemble/Spielort ICA/Pentonville Gallery/Cockpit Arts Workshop/Tate Gallery/London
Sendeinfo 1981.12.16/SWF Kultur aktuell/RB/SR/ORF Wien 1981.12.21/WDR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Der für die Förderung der Künste in Großbritannien zuständige Arts Council beauftragte im Jahre 1978 dreißig Lehrer der Londoner Slade School of Fine Arts, je eine Arbeit zu liefern für eine Mappe, die der Königinmutter anläßlich eines Jubiläums der Londoner Universität überreicht werden sollte. Danach sollte die Sammlung in der Londoner Serpentine Gallery ausgestellt werden. Es begab sich aber zu der Zeit, daß das Jubiläum der Universität mit einem anderen Ereignis zusammenfiel, das freilich gar keinen Grund zum Jubeln gab: dem zwanzigsten Jahrestag der Einführung des in deutschsprachigen Ländern unter dem Namen ‘Contergan’ bekannten Medikamentes, das Produkt einer Tochtergesellschaft des britischen Konzerns Destillers Company, der in Anzeigen dafür geworben hatte mit der Behauptung, es handle sich hier um ein Mittel, daß auch bei Einnahmen von Überdosen selbst für Kinder ungefährlich sei.

Conrad Atkinson beschloß, das folgenreiche Ereignis zum Thema seines Beitrags zur Ausstellung zu machen und darauf hinzuweisen, daß alle Bemühungen, die Königsfamilie zu bewegen, dem weltbekannten Spirituosenhersteller und Contergan-Fabrikanten das umsatzfördernde königliche Gütezeichen zu entziehen, fehlgeschlagen seien und daß die verkrüppelten Opfer der Firma viele Jahre um eine minimale Entschädigung kämpfen mußten, während die Profite des Konzerns (1977 waren es etwa 600 Millionen Mark) sich in derselben Zeit vervielfachten. Wenn das Königshaus das zutiefst unmoralische Vorgehen eines solchen Unternehmens sanktioniere, mache es sich zum Komplizen; in diesem Zusammenhang sei es kaum noch verwunderlich, daß die königliche Familie ihre eigenen Anteile an Industriekonzernen vor der Öffentlichkeit geheim halte.

Atkinsons Bildmontage mit dem Titel ‘Jubiläumsdruck: Eine Kindergeschichte’ und die Arbeit eines weiteren Künstlers durften in der vom Arts Council veranstalteten Ausstellung nicht gezeigt werden. Atkinson sah darin einen eklatanten Fall von politischer Zensur und klagte auf Vertragsbruch. Zwei Jahre später bot ihm der Arts Council eine Entschädigung an, die der Künstler akzeptierte.

Die Geschichte ist symptomatisch, sowohl für die Arbeit des Mannes, wie für den politisch-sozialen Kontext, in dem sie steht und den sie zu durchleuchten versucht. Conrad Atkinsons Projekte sind auf die neuralgischen Punkte eines inhumanen Systems gerichtet, auf die unsichtbaren Mächte, die unser Leben beherrschen. Das Londoner Institut für zeitgenössische Kunst (ICA) bot Atkinson 1972 die Gelegenheit, die Hintergründe eines Streiks in einer Thermometerfabrik seiner Heimatstadt Cleator Moor in West-Cumbria zu dokumentarisieren. Den streikenden Frauen ging es nicht um Geld, sondern um angemessenen Schutz vor den giftigen Quecksilberdämpfen, denen sie täglich ausgesetzt waren. In den Projekten ‘Eisenerz’ (1977) und ‘Asbest’ (1978) machte sich Atkinson zum Sprachrohr der Opfer von zwei anderen Industriekrankheiten, Staublunge und Asbestosis, wobei nicht nur die Frage der Kompensation bei Invalidität oder Tod zur Debatte stand, sondern auch die zynische Haltung multinationaler Konzerne, die im Wettlauf mit einer langsam arbeitenden Gesetzgebungsmaschinerie alle Verluste von Menschenleben in Kauf zu nehmen bereit waren. Atkinson begann, den menschlichen Körper als Metapher für die Gesellschaft zu sehen und die geschädigten Körperteile (geschwollene Hände, verklebte Lungen) auszustellen wie die vom Aussatz gezeichneten Glieder des Krankensystems. Andere Projekte waren den politisch-wirtschaftlichen Verhältnissen in Nordirland gewidmet, ein Thema, das durch eine Übereinkunft zwischen den großen politischen Parteien und den Medien Presse, Funk und Fernsehen in Großbritannien vor einigen Jahren noch als Tabu galt.

In seinen jüngsten Arbeiten versucht Atkinson anzuknüpfen an eine geistige Tradition, die in England zwar in der Literatur, jedoch nicht in der bildenden Kunst überlebt hatte: die Tradition des sozialen Protests, des politischen Engagements von Künstlern, die sich mit dem Schicksal der Masse des Volkes solidarisieren und bestrebt sind, die Machtstrukturen der Gesellschaft zu offenbaren. Zwei neuere Ausstellungen von Conrad Atkinson sind dem Werk der englischen Dichter Shelley und Wordworth gewidmet, die man in ihrer Heimat als große Poeten der Romantik verehrt, doch in ihrer politischen Bedeutung noch viel zu wenig kennt. Der ‘Aktivist’ Shelley wird dem ‘passiven Aktivisten’ Wordsworth gegenübergestellt.

Die Abkehr von allem ästhetisch Gefälligen, Geschmäcklerischen, Dekorativen brachte die Verwendung von Fotos, Filmen, statistischen Daten, Literatur und anderen verbalen Informationen. Atkinsons neuere Arbeiten sind farbiger und subtiler als seine früheren Projekte, weniger reine Dokumentation als Assoziationshilfen für den Betrachter. Wie immer geht es um die Herstellung von Verbindungen zwischen scheinbar Disparatem. Unsichtbares wird sichtbar gemacht. Atkinsons Verfahren ist das der Montage. Er collagiert Bilder, Materialien, Fakten, Beobachtungen, Gedanken. Im Persönlichen erkennt er das Kollektive, im Einzelfall das Symptom. In seiner Ausstellung ‘Shelley/Wordsworth’ sind fotografierte Landschaftsbilder und Worte der beiden Dichter in die Handflächen eines Bergarbeiters montiert.

Kritik der romantisierenden Vorstellung von Landschaft als unbeschädigter, reiner Natur; Demystifizierung der hinter den Ereignissen verborgenen Mächte; Denunziation irreversibler Zerstörung; Mensch und Natur als Objekte unbegrenzter Ausbeutung; das Verhältnis der Industrieländer zur Dritten Welt; Atomkrieg; die multinationalen Konzerne – das sind auch die Themen der Ausstellung ‘At the Heart of the Matter’ (Im Herzen der Sache), die zurzeit im Londoner Institut für zeitgenössische Kunst zu sehen ist. Atkinson hat noch einmal die wichtigsten Motive aus seinen Arbeiten der letzten zehn Jahre um die Polarisierung Reich und Arm gruppiert, die zentralen Sachverhalte in an die Wand gemalte rote und blaue Herzen hineingeschrieben. Jedes der Herzen bezeichnet eine der tödlichen Krankheiten im Körper der Gesellschaft.

“Mein Ziel ist es“, sagt Conrad Atkinson, “die Elemente eines Bildes, das in tausend Fragmente zerschlagen wurde, wieder zusammenzufügen; das Bild menschlicher Wesen, die eine Folge sich überlagernder, inhumaner Systeme zerrissen hat; inhumaner, doch paradoxerweise von Menschen freiwillig geschaffener Systeme”.

“Der Untergang der alten Ordnung sei dir auf deine Handflächen geprägt” schrieb El Lissitzky.

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