die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1997
Text # 290
Autor Enrique Vargas
▶ Tonaufnahme/ Theater
Titel Oraculos / LIFT '97
Ensemble/Spielort LIFT ’97/London
Inszenierung/Regie Enrique Vargas
Sendeinfo 1997.06.23/SWF Kultur aktuell/WDR/Nachdruck: Darmstädter Echo
Tonaufnahme ▶ Originaltonbeitrag

Das alle zwei Jahre stattfindende London International Festival of Theatre (LIFT) versteht sich als alternatives Theaterfestival, in dem vor allem die Arbeiten in- und ausländischer Künstler vorgestellt werden, die aus dem üblichen Rahmen fallen. Eines der interessantesten Projekte im Programm des diesjährigen Festivals kann eigentlich kaum noch als Theater gelten, sofern wir dabei an eine Vorstellung vor Zuschauern denken, die nicht selbst auch Akteure der Veranstaltung sind.

“Ich langweile mich meistens im Theater. Ich liebe das Theater, aber es langweilt mich“, erklärt der Kolumbianer Enrique Vargas, Autor und Regisseur von ‘Oraculos’, ein sogenanntes ‘performance labyrinth’. Vargas läßt sein Publikum einzeln durch ein Labyrinth höhlenartiger Gänge und Kammern wandern, in denen wir merkwürdigen Gestalten begegnen, die uns wortlos veranlassen, etwas Wunderliches zu tun, um uns dann mit einer Geste, die anzeigt, in welcher Richtung wir nach dem Weg zur nächsten Station der geheimnisvollen Reise suchen müssen, wieder zu entlassen.

Einzeln nimmt man vor der Tür zur ersten Begegnung Platz, bis sie sich sehr langsam öffnet und eine dunkle Gestalt uns einzutreten winkt. Wir befinden uns in einem düsteren Flur und werden flüsternd gebeten, die Schuhe abzulegen und an die Frage zu denken, die wir mitgebracht haben. Welche Frage? Die wichtige Lebensfrage, nach deren Antwort wir suchen.

“Ich bewege mich gern im Niemandsland“, sagt Vargas, “auch wenn das nicht ungefährlich ist. Hier passieren die meisten Unfälle“.

Der Weg führt durch enge Schlünde aus schwarzen Tüchern, an denen man sich im Dunkeln entlang tasten muß, vor einen mit Kleidern gefüllten Schrank, in dem es gespenstisch raschelt; dann in ein Spiegelkabinett, in dem ein weibliches Wesen sich versteckt, dessen lockenden Gesten man folgt, um nur immer wieder vor gläsernen Wänden zu stehen in einem ausweglos scheinenden verspiegelten Verlies. Hat man dann doch einen Ausgang gefunden, gelangt man zu einer Zigeunerin, die eine Waage hält und uns ersucht, kleine Gegenstände – Kugeln, Knöpfe, Perlen oder Hühnerfedern – in die beiden Schalen zu legen, bis sie perfekt im Gleichgewicht schweben.

In einem größeren Raum mit Sandmarkierungen am Boden, die spiralenförmig zur Mitte lenken, kniet ein bärtiger Mann, der an die wichtige Frage erinnert, die wir bei uns tragen, und uns bittet, aus einem alten Tarock-Kartenspiel eine Schicksalskarte zu ziehen. Über dunkle Stollen mit Sand-, Kies-, Stein- oder Grasböden gehend, über schwankende Holzplanken an Seilen uns vorwärts tastend oder durch Netze steigend erreichen wir die übrigen Stationen der abenteuerlichen Reise: einen Keller mit leeren Fässern, in denen es hallig knistert, wenn man über den Rand eines Fasses ins Innere schaut; eine Art Schmiede; eine Bar, an der ein attraktiver weiblicher Teufel uns zu einem Tanz verführt; durch Getreide watend zu einer Mühle mit einem Müller, der uns ein Weizenkorn mahlen läßt, uns das Mehl auf die Hand gibt und uns dann in eine düstere Backstube schickt, wo plötzlich aus grauen Vorhängen eine Hand nach uns greift, uns Teig fühlen läßt, den wir formen und auf einem niedrigen runden Tisch zurücklassen.

Die Reise endet bei einem schönen Mädchen mit Kopftuch, das uns einlädt, auf dicken Kissen Platz zu nehmen und bei einer Tasse Tee und frischgebackenen Brötchen, die sie heiß aus dem Ofen holt, schweigend für ein paar Minuten über das soeben Erlebte nachzudenken.

Wenn man vor der letzten Tür seine Schuhe wiedergefunden hat und aus der Dunkelheit in die Helle des Tages zurückkehrt, ist nur eine gute Stunde vergangen. Man wacht auf wie nach einem langen, wundersamen Traum, von dem nur noch Erinnerung bleibt: an seltsame Gestalten in düsteren Räumen, an das ferne Geräusch von Wasser in einer Höhle, an flüsternde Stimmen, an das mit Händen und Füßen Ertastete, an vertraute und fremde Gerüche und an die Stille.

“Was ich vor allem untersuchen möchte, ist das Phänomen Stille“, sagt Enrique Vargas. “Was ist Stille? Eine Geschichte, die man erzählt, atmet durch ihre stillen Momente. Ein Gemälde muß uns Zeit geben zum Atmen, damit wir überhaupt etwas sehen. Worte, die wir lesen, halten Abstand voneinander, damit wir sie entziffern können. Es gibt aktive Stille und passive Stille. Man kann Stille aufladen oder entladen – wie macht man das?“.

Und was veranlaßt Enrique Vargas, solche Fragen zustellen? “Mein Ziel ist wohl immer die Vorbereitung auf den eigenen Tod. Darum mache ich Theater. Ich möchte die Freude am Leben mit anderen teilen und die Erkenntnis, daß wir dem Tod gelassen, wenn möglich mit offenen Augen begegnen sollten“.

 

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