die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1995
Text # 361
Autor Friedrich Schiller/Stanislaw Wyspianski
Theater/ Edinburgh Festival
Titel Don Carlos/Klatwa
Ensemble/Spielort Glagow Citzens’ Theatre/ Teatre Wierszalin, Supraśl/Polen/Edinburgh Festival
Inszenierung/Regie Philip Prowse/Piotr Tomaszuk
Sendeinfo 1995.08.28/SWF Kultur aktuell/DR

Kaum ein anderes Theater in Großbritannien hat so viel wie das Glasgow Citizens’ Theatre dafür getan, die notorische Insularität der Briten zu überwinden und mit der Aufführung wichtiger Werke aus anderen europäischen Ländern daran zu erinnern, daß es auch dort bedeutende Dramen und eine Theatertradition gibt, die es verdienen ernstgenommen zu werden. 1943 von dem Autor James Bridie gegründet und seit 1945 in dem Gebäude zuhause, das als Glasgow Citizens’ Theatergeschichte machte, feiert das Ensemble in diesem Herbst sein fünfzigstes Jubiläum. Seit fünfundzwanzig Jahren unter derselben künstlerischen Leitung, einem Triumvirat bestehend aus dem Schauspieler und Regisseur Giles Havergal, dem Autor und Übersetzer Robert David MacDonald und dem Regisseur und Bühnenbildner Philip Prowse, gilt das Glasgow Citizens’ als das einflußreichste britische Schauspielensemble seit Mitte der siebziger Jahre, das auch auf die großen Londoner Bühnen, Nationaltheater und Royal Shakespeare Company, indirekt eingewirkt zu haben scheint. Es ist zudem eines der wenigen Theater, das nie in die roten Zahlen geriet, obwohl man sich von Anfang an dazu entschloß, “das Publikum zu subventionieren“ (Philip Prowse) und einen Einheitspreis für alle Plätze festzulegen, der vor zwanzig Jahren bei etwa vier Mark lag und heute umgerechnet nur 13,50 DM beträgt.

Weil man im Ausland oft keine Vorstellung davon hat, was die nach dem Motto ‘British is best’ seit Generationen geübte Begrenzung des Blickfeldes im kulturellen Bereich bedeutet, muß bei solcher Gelegenheit daran erinnert werden, daß man in Großbritannien höchstens die Namen der deutschen Klassiker, nicht aber ihre Werke kennt. Daß ich selbst noch das Vergnügen hatte, die britische Erstaufführung von Schillers ‘Räubern’ zu besprechen, fast zweihundert Jahre nach der Entstehung des Stückes, oder die britische Erstaufführung von Kleists ‘Penthesilea’, Hauptmanns ‘Webern’ und anderen längst verstorbenen Klassikern des kontinentaleuropäischen Theaters, spricht in diesem Zusammenhang für sich.

Dem für seine Verdienste um die deutsche Literatur mit dem Goethepreis ausgezeichneten Autor und Übersetzer Robert David MacDonald ist es vor allem zu verdanken, daß das Glasgow Citizens’ im Verlauf der letzten Jahre Schillers ‘Maria Stuart’ und ‘Die Jungfrau von Orléans’ auf die Bühne brachte. Die Glasgower Inszenierung von Goethes ‘Tasso’ war 1994 eine der schauspieltheatralischen Höhepunkte des Edinburgh International Festival. In diesem Jahr stellt das Glasgow Citizens’ Schillers ‘Don Carlos’ vor, wieder in einer neuen Übertragung von Robert David MacDonald und in der Inszenierung von Philip Prowse, der in Gesprächen mit Journalisten wissen ließ, daß man ohne die finanzielle Unterstützung des Festivals sich ein so kostspieliges Unternehmen kaum habe leisten können.

Wie bei den meisten seiner Inszenierungen hat Philip Prowse auch für Schillers ‘Don Carlos’ einen visuell spektakulären Rahmen geschaffen. Eine zerklüftete schwarze Wand aus glänzendem Marmor oder Ebenholz, die der Fuß einer gigantischen Säule sein könnte, wird zu Beginn des Stückes hochgezogen und schwebt bedrohlich als tonnenschwere Last über der Szene, Sinnbild für die erschreckend oppressive Atmosphäre am spanischen Hof. In die schwarze, mit goldenen Stukkaturen verzierte Rückwand sind zahllose Türen fast unsichtbar eingelassen, die sich geräuschlos öffnen und schließen – Ohren und Augen der allzeit wachsamen, allgegenwärtigen Inquisition, die mit dem theatralisch höchst eindrucksvollen Auftritt des Großinquisitors denn auch den dramatischen Schlußpunkt setzt.

Trotz eines Carlos, der sich wie ein pubertärer Dümmling verhält, und eines Posa, der dem König so formlos, salopp hemdsärmelig begegnet, daß man nicht recht versteht, warum Philipp von dem jungen Mann so angetan ist, wurde die Inszenierung des für die meisten Zuschauer unbekannten Schillerdramas zu einem der größten Erfolge des diesjährigen Festivals; ein Erfolg, der ohne Zweifel in erster Linie auf MacDonalds brillanteÜbersetzung zurückzuführen war sowie auf die überragende schauspielerische Leistung von Giles Havergal in der Rolle des spanischen Königs, den ich noch nie zuvor so differenziert, intelligent und menschlich gesehen habe.

“MacDonalds Übersetzung ist meisterhaft, klar und modern”, hieß es im ‘Guardian’. “Die Dialoge fließen mit großer Eloquenz und sind scharf gemeißelt, knapp und oft auf grausame Weise witzig”. – Bezeichnend für MacDonald’s Umgang mit der Sprache sei der Moment, da Philipp seinen Sohn ersuche, sich nicht so kindisch aufzuführen, schreibt der Kritiker der ‘Times’. MacDonald lasse ihn sagen: “Infante, erspare mir dies Getue;/ ich mag es nicht, noch bist du gut darin”. Giles Havergal spreche solche Sätze mit sardonischem Humor.

Der Rezensent des ‘Guardian endet seinen Bericht mit den Worten: “Dies ist ein dramatischer Triumph: Man weiß mit absoluter Gewißheit, daß wir es mit einem großen Theaterstück zu tun haben, das einem modernen Publikum auf nachdenkliche, intelligente und unvergeßliche Weise vorgestellt wird”.

Der Aberglaube an die Unfehlbarkeit einer Kirche, die Gedankenfreiheit als größte Bedrohung ihrer uneingeschränkten Macht versteht und mit menschenverachtender Härte ihre Gegner zur Strecke bringt, hat in Schillers ‘Don Carlos’ das letzte Wort.

In ‘Klatwa’ (Der Fluch), vorgestellt von dem polnischen Theater Wierszalin im Rahmenprogramm des Festivals, geht es ebenfalls um Aberglaube und Fanatismus, die Leben zerstören. Das Stück ist eine Bearbeitung des gleichnamigen Schauspiels von Stanislaw Wyspianski, der als Begründer des modernen polnischen Theaters gilt. Die Handlung selbst basiert auf einer wahren Geschichte, die sich Ende des vorigen Jahrhunderts in einer dörflichen Gemeinde Südpolens zugetragen haben soll.

Ein junger Pfarrer hat sich in ein Mädchen des Dorfes verliebt. Zwei uneheliche Kinder kommen zur Welt. Wegen jahrelanger Trockenheit herrscht Hungersnot. Die Dorfbewohner deuten dies als Strafe Gottes für das in Sünde lebende Paar. Eine Art Hexenjagd beginnt, die die junge Frau in den Wahnsinn treibt und sie dazu bringt, ihre Kinder ins Feuer zu werfen, um das Dorf zu erlösen.

Die polnische Truppe, die bereits in den beiden vergangenen Jahren erste Preise im Rahmenprogramm des Festivals gewann, hat unter der Leitung des jungen Regisseurs Piotr Tomaszuk einen unverwechselbar eigenen Stil entwickelt. Aus einer einfachen Fabel, musikalischen und rhythmischen Elementen, mit Licht und Dunkel spielenden, verlangsamten Bewegungsabläufen, mit Holzpuppen und Masken, einem aufs äußerste reduzierten Bühnenbild und wenigen Requisiten entsteht eine Art Moralitätenspiel, das an einen mittelalterlichen Totentanz erinnert; albtraumhafte Szenen, in denen die Menschen wie Lemuren erscheinen; das Psychogramm einer dörflichen Gemeinschaft, die angsterfüllt in archaischer Dunkelheit lebt und, von religiösen Fanatikern angestachelt, heuchlerisch und grausam gegen den Nächsten in Gottes Namen böse handelt.

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