die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1982
Text # 347
Kulturpolitik/ Edinburgh Festival
Ensemble/Spielort Edinburgh International Festival
Sendeinfo 1982.09.06/DLF/SWF Kultur aktuell//RB 1982.09.07/SR/ORF Wien 1982.09.15/Darmstädter Echo (teilw.)

Das Edinburgh Festival ist das Festival der Festivals. Der Satz gilt auf mehrfache Weise, darf aber zunächst ganz wörtlich verstanden werden. Denn neben den sechzig Veranstaltungen des eigentlichen Festivalprogrammes sorgen die vielen hundert Veranstaltungen des Edinburgh Festival Fringe, der alternativen Szene, und die zur gleichen Zeit stattfindenden, doch voneinander unabhängigen Internationalen Filmfestspiele, das Fernseh-Festival und das Internationale Radio-Festival für die volle Berechtigung des Anspruchs: Festival der Festivals.

Für drei Wochen wird die verschlafene Provinzhauptstadt zum kulturellen Treffpunkt par exellence. Die Veranstalter des sogenannten offiziellen Programms nutzten in diesem Jahr die Gelegenheit zur Einberufung einer internationalen Konferenz zum Thema ‘Der Staat und die Künste’. Regierungsvertreter aus Frankreich, Italien und Großbritannien, prominente Funktionäre der Kulturverwaltung ihrer Länder, Künstler und Kunstkritiker sollten die von Land zu Land verschiedenen Systeme der Kunstförderung vergleichen und kritisch überprüfen. Die zweitägige Konferenz unter der Leitung des Schriftstellers John Mortimer führte zu verblüffenden Resultaten und wurde erstaunlicherweise zu einem der wichtigsten Ereignisse des diesjährigen Festivals.

John Mortimer eröffnete die Konferenz mit dem Satz: “Kunst ist für den Menschen so lebenswichtig wie sein täglich Brot“und er schloß mit den Worten: “Wo die Kunst im Argen liegt, da liegt das Land im Argen“. Vorausgesetzt wurde die Einsicht aller, daß in einer Demokratie der Staat, also der steuerzahlende Bürger, die Rolle des Mäzens zu spielen habe und daß den Verwaltungsbehörden grundsätzlich jede Form der Einflußnahme auf das Wie der Verwendung der den Künstlern überlassenen Mittel versagt werden müsse.

Paul Channon, der britische Minister für Kunst, beschrieb das britische Modell als ein Mittleres zwischen den Extremen USA, wo der Staat das kulturelle Leben praktisch ignoriert, und DDR, wo – ähnlich wie in anderen Ländern Osteuropas – der Staat fast die gesamte künstlerische Produktion in eigene Regie übernimmt.

Eine unabhängige Körperschaft, der Britische Arts Council, und seine verschiedenen Fachkomitees entschieden hierzulande über die Verteilung der verfügbaren Gelder.

Das britische Kunstministerium gilt bezeichnenderweise als Ministerium zweiten Ranges. Als Reaktion auf den Egalitarismus der faschistischen Ära teilen sich in Italien heute nicht weniger als drei Ministerien in die Förderung von Kultur und Kunst, wobei die Regionalregierungen – ähnlich wie heute in Frankreich – in Bezirken, Landkreisen und Städten eine weit größere Rolle spielen als etwa in Großbritannien. Sergio Romano, Generaldirektor für kulturelle Beziehungen im italienischen Außenministerium, betonte, es komme darauf an, nicht nur bessere Bedingungen der Unterhaltung zu kreieren, sondern vor allem bessere Bedingungen der Kreativität. Da Kunst nicht nur die betreffe, die sie machen, folgerte er, dürfe man die Künstler, die ihren Anspruch in demokratischen Prozessen nicht genügend durchsetzen könnten, nicht sich selbst überlassen.

Frans de Ruiter, Direktor des Holland-Festivals, räumte auf mit einem anderen Mißverständnis sogenannter Demokratie: Künstler, Interpreten und Organisatoren künstlerischer Veranstaltungen hätten die Aufgabe, sich ein Publikum heranzubilden, das auch das Neue in der Kunst zu schätzen wisse. Nicht das Publikum, der Künstler habe die Zeichen zu setzen. Peter Ustinov, nach der Erkrankung des eingeladenen Hans-Werner Henze prominentester Vertreter der Künstler, unterstrich diesen Gedanken mit der geistreichen Formulierung: “Give the audience what they will find they want” (Gib dem Publikum, was es glauben wird haben zu wollen).

Den bedeutendsten Beitrag der Konferenz lieferten die Vertreter des französischen Kulturministeriums mit einer Skizze der neuen Kulturpolitik Frankreichs. Da die nur theoretisch unabhängigen, in der Praxis weitgehend auf konservativen Gleichklang eingestimmten Medien der Information der britischen Öffentlichkeit über die Kulturpolitik Mitterands kaum etwas mitgeteilt hatten, schlug die Nachricht, die französische Regierung habe das Gesamtbudget für die Künste in diesem Jahr schlicht verdoppelt, ein wie eine Bombe. Die Konferenz brauchte vierundzwanzig Stunden, um auf die Herausforderung – das genaue Gegenteil des von Frau Thatcher durchgesetzten Programms der drastischen Beschneidung der Ausgaben in nahezu allen Bereichen der Kultur und des Erziehungswesens – zu reagieren.

Das für die neue französische Kulturpolitik Entscheidende und in den westlichen Ländern Revolutionäre ist die Einsicht, daß gerade in einer Zeit wirtschaftlicher Krisen, die Millionen von Menschen arbeitslos machen, zur Arbeitszeitverkürzung oder Änderung des Berufes zwingen, die geistigen und kulturellen Werte der Nation am Leben erhalten werden müssen; daß es politischer Entscheidungen auf höchster Ebene bedarf, um die Entwicklung der Menschheit zur seelenlosen Masse aufzufangen und dem Einzelnen durch Förderung seiner kreativen Impulse wieder ein Gefühl persönlicher Würde zu geben; daß es darauf ankommt (wie es in einer Broschüre des französischen Kulturministeriums heißt), “die Künste mit der Regierung, die Gesellschaft als ganzes mit der jüngeren Generation und ein ganzes Land mit den Trägern seiner Kultur zu versöhnen“; und schließlich die Einsicht, daß die Förderung von Kunst und Kultur eine Investition ist, die – vor allem auf längere Sicht – auch wirtschaftlich Früchte tragen wird.

Wenn die in Edinburg genannten Zahlen stimmen, gibt der französische Staat heute im Jahr pro Kopf der Bevölkerung DM 42 für Kunst und Kultur aus, der britische Staat dagegen nur umgerechnet DM 6.50, also etwa ein Sechstel. Unter dem Motto “Priorität den Kräften des Geistes und der Erfindung!“ wurden die Subventionen in Frankreich für die Theater verdoppelt, die Ausgaben für “künstlerisches Schaffen“ auf das Zehnfache erhöht, die für “Buch- und Autorenrechte” auf das Fünfzehfache und die für sogenannte “Internationale Angelegenheiten” (Kulturaustausch im weitesten Sinne) auf das Fünfunddreißigfache.

Zur neuen französischen Kulturpolitik gehört als wichtiges Element der Begriff Dezentralisierung, die Förderung der regionalen Eigenheiten und die Achtung vor der Kultur anderer Völker. Die pluralistische Idee von Kultur kehrte in einer Bemerkung von Roy Hattersley wieder, einem der führenden Männer der Labour-Partei: “Die Leute, die die Künste kontrollieren, haben noch immer nicht begriffen, daß wir in einer multi-kulturellen Gesellschaft leben“. Man war sich einig: Nur grundlegende Änderungen der Erziehungspolitik können die sogenannten Rahmenbedingungen ändern, den gesellschaftlichen Kontext, der die Menschen auch in ihrer Einstellung zur Kunst vorprogrammiert. Es geht um einen Lernprozeß, bei dem die Franzosen heute uns allen einen großen Schritt voraus zu sein scheinen; nach den Worten Lord Goodmans: Es geht um die Erkenntnis, daß – auch wirtschaftlich gedacht – “kein Geld besser angelegt ist, als die winzigen Beträge, die wir für die Künste abzweigen”.

Die Konferenz endete mit einem leidenschaftlichen Plädoyer des Festivaldirektors John Drummond für die Erhaltung des künstlerischen Niveaus der Festspiele durch ein entschiedeneres Engagement der Stadt Edinburg (von der David Steel, der Vorsitzende der britischen Liberalen Partei, gesagt hatte, das Festival subventioniere die Stadt, nicht die Stadt das Festival) und für eine aufgeschlossenere Haltung gegenüber den künstlerischen Errungenschaften des Auslandes. Man möge sich an dem kleinen Land Österreich ein Beispiel nehmen, das als Industriemacht kaum konkurrieren könne, aber erkannt habe, daß die Förderung der Künste keine Verschwendung sei, sondern eine Investition, die auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht hohe Dividenden erbringe.

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