die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1994
Text # 310
Autor William Shakespeare/Tadashi Suzuki
Theater
Titel King Lear/Tale of Lear/The Merchant of Venice
Ensemble/Spielort Everybody’s International Shakespeare Festival/Barbican Theatre/London
Inszenierung/Regie Yukio Ninagawa/Tadashi Suzuki/Peter Sellars
Sendeinfo 1994.11.14/SWF Kultur aktuell/DLF/ORB (teilw.) 1994.11.15/WDR 1994.11.21/MDR/SDR/ORB (teilw.) (versch. Fassungen)

Als der japanische Regisseur Yukio Ninagawa mit seiner Theatertruppe während des Edinburgh Festival 1985 seine Inszenierung von Shakespeares ‘Macbeth’ vorstellte, sorgte er für eine Sensation. “Ninagawas ‘Macbeth’ erinnert daran, daß es erstaunliche Alternativen zur britischen Behandlung der Werke gibt”, schrieb damals der Kritiker der Zeitung ‘The Guardian’. Ninagawas Ensemble kehrte ein Jahr später mit der ‘Medea’ des Euripides nach Edinburg zurück. Als ich die Aufführung sah, bei Sturm und Regen unter freiem Himmel, vor Nässe und Kälte zitternd, war der Eindruck so überwältigend, daß es mir bei dem Versuch zu beschreiben, was wir gehört und gesehen hatten, fast die Sprache verschlug.

Nur ein paar Straßenzüge weiter zeigte die japanische Theatertruppe Banyo-Inryoku während desselben Festivals ihre Inszenierung ‘Suna’, eine faszinierende Collage aus szenischen Ereignissen, Bildern und Klängen, die sich mit nichts von dem, was wir sonst als Theater verstehen, vergleichen ließ.

Das in diesen Wochen im Londoner Barbican Centre laufende erste internationale Shakespeare-Festival in Großbritannien gibt uns erfreulicherweise Gelegenheit, die Arbeit eines anderen großen japanischen Theatermannes kennenzulernen, von dem man sagt, er sei einer der bedeutendsten und einflußreichsten Regisseure unserer Zeit.

Tadashi Suzukis Inszenierung ‘Die Geschichte von Lear’ verlagert die dramatischen Ereignisse der Shakespeare-Tragödie in den Kopf eines alten, kranken Mannes, der in einer Nervenheilanstalt seine letzten Tage verbringt. Eine Schwester, die ihn betreut, liest ihm aus einem Buch vor. Es ist die Geschichte von König Lear, die den Alten daran erinnert, wie er selbst von seinen Kindern grausam betrogen wurde. Er bildet sich ein, Lear zu sein, und erlebt die Geschichte des Königs, den die Grausamkeit seiner Töchter in den Wahnsinn trieb, als Geschichte seines eigenen Lebens. Die Figuren des Stückes, die nach und nach aus dem Dunkel der Hinterbühne ins Helle treten, sind Projektionen seiner Phantasie. Wenn Lear über dem Leichnam seiner ermordeten Tochter Cordelia zusammenbricht und stirbt, geht auch das Leben des Alten zuende. Am Schluß sieht man nur noch die Schwester, die auf dem verwaisten Lehnstuhl des alten Mannes Platz genommen hat und über den Ausgang der Geschichte in grauenvolles Gelächter ausbricht.

Suzuki hat eine eigene Darstellungstechnik entwickelt, die auf den klassischen Formen des japanischen Theaters – Noh und Kabuki – basiert, jedoch den Abgrund, der die westlichen Konventionen der Darstellung von ihnen trennt, zu überwinden versucht. Der Einfluß des Westens wird deutlich an der Auswahl der Stücke, die Suzuki für seine Inszenierungen verwendet. Seine Vorliebe gilt vor allem den griechischen Tragödien und Shakespeare, die er freilich nur nach den eisernen Regeln der seit den siebziger Jahren entwickelten ‘Suzuki-Methode’ aufführen läßt.

Die Schauspieler werden während ihrer Ausbildung einem rigorosen körperlichen und geistigen Training unterworfen und lernen, die Körperenergie nach unten, auf ihre Füße und den Boden, den sie berühren, zu richten. Nicht nur der Text, auch alle Bewegung ist bis aufs äußerste reduziert. Die Darsteller scheinen mit dem Boden verwachsen zu sein und verbleiben manchmal so lange reglos in bestimmten Positionen, daß in einer Aufführung der ‘Frauen von Troja’, wie es heißt, eine Spinne zwischen der Schulter eines Darstellers und dem Stab, den er in Händen hielt, ein Netz spinnen konnte.

Die bis zur Perfektion gesteigerte Technik der Konzentration auf die kleinsten Details des Ausdrucks und der Bewegung führt zur äußersten Konzentration auf die mit großer Intensität gesprochenen Texte. Der Eindruck ist überwältigend und hat etwas von der therapeutischen Wirkung einer Katharsis, wie sie von den alten Griechen verstanden wurde: einer Heilung der an den Belastungen des Alltags erkrankten Seelen. Daß wir in einer aus den Fugen gegangenen Zeit, die uns durch das immer irrsinniger werdende Tempo ihrer Abläufe krank gemacht hat, einer solchen Heilung heute mehr denn je bedürfen, ist keine Frage mehr.

Peter Sellars’ klägliche Chicagoer Inszenierung des ‘Kaufmann von Venedig’, die als letztes Beispiel der Reihe von Arbeiten ausländischer Regisseure im Rahmen des Shakespeare-Festivals vorgestellt wurde, war dagegen Ausdruck und Inbegriff jenes tagtäglichen Wahnsinns, der immer furchtbarer werdenden Folgen der permanenten Zerstreuung, vor denen Tadashi Suzukis Theaterarbeit uns zu retten versucht.

Über der kahlen Bühne und von der Decke des Zuschauerraums baumeln zahlreiche Lautsprecher und riesige, permanent flimmernde Fernsehschirme. Sie zeigen Videofilme scheinbar beliebigen Inhalts – wie Meeresbrandung, Blumenstauden, Teile eines Swimmingpools und Sequenzen aus einem Zeichentrickfilm – oder die Nahaufnahmen der Gesichter von Schauspielern, die sich nur über Mikrofone mit ihren Partnern auf der Bühne verständigen.

Daß der Text, den wir hören, von Shakespeare stammt, ist bei der Art, wie er behandelt, im Chicagoer Slang oft mehr erbrochen als gesprochen wird – bis auf Shylocks berühmte Monologe, die uns ausnahmsweise ohne optische und akustische Störmanöver im Close-up dargereicht werden – kaum noch auszumachen. Shylock ist ein schwarzer Geschäftsmann, Antonio homosexuell, Bassanio bisexuall. Die Liebesszenen der beiden sind so leidenschaftlich, daß der Kritiker der ‘Times’ gestand, er habe befürchtet, daß es zur Kopulation im Gerichtssaal kommen werde.

Salarino und Salario kommentieren als flapsige Fernsehnachrichtensprecher die Ereignisse. Die jungen Venezianer treten als Yuppies auf; der alte Gobbo ist ein geistig derangierter christlicher Missionar. Statt der Kästchen werden den Freiern Särge zur Auswahl vorgelegt. Und wie in Sellars’ mißlungener Inszenierung der ‘Perser’, die er mit ähnlichen Mitteln zu einem Stück über den Golfkrieg umfunktionierte, geht die Logik der verzerrten Zusammenhänge nirgendwo auf. Sellars scheine unfähig, sich vorzustellen, daß es etwas anderes geben könne als ‘the American way of life’, meinte der Kritiker der Zeitung ‘The Independent’. Er habe den Eindruck, “daß uns hier weder über die Rassenspannungen in Los Angeles, noch über Shakespeares Stück irgendetwas wichtiges mitgeteilt wurde“.

Brecht hat einmal auf die Frage: Dürfen wir den Shakespeare verändern? geantwortet: Wir dürfen Shakespeare verändern, wenn wir ihn verändern können; was soviel heißen sollte wie: wenn wir ihm gewachsen sind. Angesichts solcher Verrenkungen, die uns von Regisseuren zugemutet werden, welche die klassischen Werke, denen sie nicht gewachsen sind, zu eigenen Zwecken mißbrauchen, klingt selbst das altmodische Pathos Alec McCowans, der in der Uraufführung der Musik zu Shakespeares ‘Sturm’ von Jean Sibelius zu Beginn des Festivals die Rolle des Prospero sprach, noch wie eine Offenbarung.

Nach Oben