die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1990
Text # 350
Autor Jeremy Weller
Theater/ Edinburgh Festival
Titel Glad
Ensemble/Spielort Grassmarket Project
Inszenierung/Regie Jeremy Weller
Uraufführung
Sendeinfo 1990.08.27/SWF Kultur aktuell/RIAS 1990.09.04/DLF/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo

Im großen Rahmenprogramm des Edinburgh Festival Fringe sind in diesem Jahr bemerkenswert viele der neuen Stücke ernsteren Inhalts dem Schicksal von Außenseitern und Opfern der Gesellschaft gewidmet. Ein halbes Dutzend geht auf die Verhältnisse in Erziehungsheimen, Gefängnissen und Zuchthäusern ein und fragt nach Ursachen und Gründen, die die betroffenen Personen auf die schiefe Bahn getrieben haben.

Das bei weitem erstaunlichste und bewundernswerteste Projekt ist in Edinburgs Grassmarket entstanden, einer Gegend der Innenstadt, in der man den meisten verwahrlosten Gestalten von Alkoholikern und Obdachlosen begegnet. In einer Halle der Grassmarket-Mission, die als Schlafsaal eingerichtet ist, findet allabendlich die Aufführung eines Stückes statt, das sich nicht ohne Ironie ‘Glad’ nennt (auf deutsch: Froh) und von Obdachlosen handelt, die hier vorübergehend Aufnahme gefunden haben. Doch was dieses Stück von allen anderen unterscheidet, ist die Tatsache, daß die meisten Darsteller keine Schauspieler, sondern wirklich Obdachlose sind, die seit Monaten, Jahren oder Jahrzehnten in solchen Armenquartieren hausen und hier nur sich selbst darstellen, ihre eigene Geschichte erzählen. Die Brutalität, deren Zeuge wir sind, das Mißtrauen und der Haß gegeneinander und gegen die Außenwelt, die sie zur Unterklasse werden ließ und ihnen die Rückkehr in eine gesicherte Existenz so schwer macht, sind die Formen der Gewalttätigkeit, die sie täglich und nächtlich wahrhaftig erleben.

Das Projekt wurde im Laufe des vergangenen Jahres unter der Leitung des Regisseurs Jeremy Weller mit den ‘Darstellern’ gemeinsam entwickelt. “Neunzig Prozent des textlich Festgelegten stammt aus den Erfahrungen der Obdachlosen selbst”, heißt es im Programmheft. “Sie entschieden darüber, was von den Ideen und Vorschlägen des Regisseurs und der mitbeteiligten professionellen Schauspieler ins Stück übernommen oder abgetan wurde. Daß ‘Glad’ in Edinburg spielt, ist weitgehend irrelevant. Die Geschichte um die es geht, geschieht überall auf der Welt”.

Was die Sache so faszinierend macht, ist die Beobachtung, welches unvorstellbare Potential, wie viel kreative Energie hier in den elenden, in die tiefsten Zonen der Gesellschaft abgesunkenen Gestalten zu finden ist. In Gesprächen mit dem (von einem Schauspieler dargestellten) Regisseur, der uns auf solche Weise indirekt wissen läßt, unter welchen außergewöhnlichen Schwierigkeiten das Grassmarket-Projekt zustande kam, berichten die ‘Darsteller’ aus ihrem eigenen Leben: die Jungen noch voll Empörung und Zorn über das Unrecht, das ihnen meist schon in früher Kindheit zugefügt wurde und sie orientierungslos ins Abseits trieb; die Alten meist stoisch-resigniert, dem Alkohol ergeben, doch mitunter auch (wie der 64-jährige Terry Rigby, der in ‘Glad’ eine Hauptrolle spielt) mit unbezwingbaren Humor, Geist und Witz und tiefer Lebensweisheit.

Es ist eine Erfahrung, die uns, die in glücklich behüteten Verhältnissen aufgewachsenen Privilegierten dieser Gesellschaft, die Augen öffnen kann und für die unmittelbar Beteiligten durch die indirekt psychotherapeutische Wirkung der Selbstdarstellung mit den sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen von unschätzbarem Wert sein muß.

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