die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1985
Text # 216
Autor Peter Shaffer
Theater
Titel Jonadab
Ensemble/Spielort Olivier Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Peter Hall
Hauptdarsteller Alan Bates
Uraufführung
Sendeinfo 1985.12.06/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/BR/SR/ORF Wien

“Was zeichnet Peter Shaffer vor anderen Autoren aus und macht ihn zum populärsten lebenden Bühnendichter?“, fragt der Kritiker einer Londoner Zeitung in einem Vorbericht zur Premiere des Stückes ‘Jonadab’ und gibt uns zur Antwort: “Vor allem die Gabe der Erfindung gewaltiger theatralischer Bilder – die Eroberung Perus in ‘The Royal Hunt of the Sun’, die Blendung der Pferde in ‘Equus’ und die Ermordung Mozarts in ‘Amadeus’. Dies sind nicht nur sensationelle Aufhänger (meint John Barber), sondern “Metaphern im Dienst der Auseinandersetzung mit Fragen von universaler Bedeutung“.

Spektakulär ist auch das Thema des neuen Peter-Shaffer-Stückes, das soeben im großen Haus des Londoner Nationaltheaters uraufgeführt wurde. Es geht zurück auf eine Geschichte des alten Testamentes, die uns im 13. Kapitel des zweiten Buches Samuel überliefert wird. Es ist die Geschichte eines Verbrechens, das wegen seiner sexuellen Konnotationen auch heute noch ebenso fasziniert wie mit Abscheu erfüllt: die Vergewaltigung Thamars, der Tochter des Königs David, durch ihren Halbbruder Amnon.

Der biblische Text berichtet, daß Amnon der älteste Sohn des Königs, “sich ganz krank grämte um seiner Schwester Thamar willen”; woraufhin sein Vetter und Freund Jonadab (“ein sehr kluger Mann“, wie es heißt) ihm zu einer List geraten habe: er solle sich krank stellen, und wenn der König ihn besuchen komme, solle er den Vater bitten, seine Tochter zu senden, um ihrem Bruder ein Essen zu bereiten. Amnon folgt dem Rat, schickt seine Diener aus dem Haus, vergewaltigt Thamar und stößt sie dann von sich. Sie sucht Zuflucht bei ihrem Lieblingsbruder Absalom, der zwei Jahre später Gelegenheit findet, die Schandtat zu rächen, und Amnon ermorden läßt.

In seinem Roman ‘Die Vergewaltigung Tamars’ hat Dan Jacobsohn die kargen Fakten des biblischen Textes psychologisierend weitergedichtet und Jonadab zur zentralen Erzählerfigur gemacht, die uns aus historischer Distanz über die Ereignisse informiert und kommentierend dazu Stellung nimmt. Shaffer erklärt, er habe den Roman vor fünfzehn Jahren kennengelernt und sich vorgenommen, den Stoff eines Tages zu dramatisieren. Während des Schreibens habe sich die Geschichte allmählich verselbstständigt und eine neue Richtung genommen.

In Peter Halls Inszenierung ist Alan Bates der moderne Erzähler, der im historischen Kostüm des Jonadab uns durch die Handlung führt, wie ein Regisseur, der Szene für Szene abrollen läßt und den Gang der Ereignisse jederzeit anhalten kann. Jonadab kommentiert das Geschehen aus ironisch-kritischem Abstand. Er spricht die Sprache von heute, nennt sich einen ”voyeur extraordinair” und “Geigerzähler” der Ereignisse. Im übrigen spielt er die Rolle des Intriganten, der vieles in Bewegung bringt, ohne selbst für die Konsequenzen einstehen zu müssen.

Wir erleben die Geschichte aus Jonadabs Perspektive, doch seine Version ist uneindeutig und widersprüchlich und wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet. Zur Handlung selbst: Wäre es nicht auch ohne Jonadabs Einfluß zu der Vergewaltigung gekommen? Hätte Amnon nicht auch ohne Jonadab die Liebe zur eigenen Schwester entdeckt? Hat Thamar die Gewalttat Amnons provoziert und so gewissermaßen mitverschuldet? Welche Rolle spielt die Indifferenz des Königs nach der Entdeckung des Vergehens? Sind auch Absaloms Motive nur von Selbstsucht und Berechnung geprägt? Und allgemeiner: War die damals (um das Jahr 1000 v. Chr.) gerade vollzogene Umstellung vom Matriarchat zum Patriarchat, vom Polytheismus zum Monotheismus und die Entwicklung zu einem neuen Rollenverhalten der Geschlechter wirklich nur als Fortschritt zu verstehen? Welche Bedeutung hatte der eine allgewaltige Gott, sofern es ihn gab, für die Menschen, wenn die Mächtigen unter ihnen tun durften, was ihnen gefiel, und sich dabei auch noch auf den Willen Gottes berufen konnten?

Viele dieser Fragen ergeben sich nicht von selbst aus der Konfiguration der Handlung, sondern werden dem Darsteller des Jonadab in den Mund gelegt, eine Methode, die auf die Dauer weniger erhellend als störend wirkt, weil damit ein Teil der faszinierenden Ambivalenz der Motive, Handlungsweisen und Charaktere verloren geht.

Shaffers entscheidende Zutat zu der von Jacobsohn erweiterten biblischen Geschichte ist die Schlußpointe des Stückes: daß Thamar Liebe zu ihrem Bruder Absalom, die sich nach dem furchtbaren Erlebnis mit Amnon als Gegenbild zur seelenlosen Sexualität und Ausdruck zärtlich liebender Hingabe zu entwickeln schien, – daß Thamar diese Liebe nur geheuchelt habe, um sich nach der Parole ‘Mann ist Mann, da ist kein Unterschied’ an der ganzen Männerwelt rächen zu können. Doch diese Wandlung des Mädchens vom hilflosen Opfer in männlicher Gewalt zum blutrünstigen weiblichen Dämon verrät auch die große Schwäche des Schauspiels, dem es zwar nicht an grandiosen theatralischen Momenten, doch im Unterschied zu Shaffers früheren Stücke an jener Glaubhaftigkeit mangelt, auf die wir als Zuschauer angewiesen sind.

Jonadab, der Voyeur, der alles genau gesehen zu haben schien, gibt am Ende des Stückes zu, daß er in der Rolle des ewig Außenstehenden immer nur Vorhänge zwischen sich und den Menschen sah. Für Peter Halls Inszenierung ist die große Arenabühne des Olivier Theatre durch riesige Schleiervorhänge unterteilt, ein geheimnisvoll wirkendes Labyrinth aus Gängen und Räumen mit hohen, durchscheinenden Wänden, die voll sind von hebräischen Schriftzeichen, den Texten der heiligen Bücher, Wänden so hoch wie die Mauern der Festung Jerusalem, die sich auftun und ihre Geheimnisse offenbaren.

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