die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1984
Text # 206
Autor Bertolt Brecht/Hanif Kureishi
Theater
Titel Mutter Courage und ihre Kinder
Ensemble/Spielort Barbican Theatre/Royal Shakespeare Company/London
Inszenierung/Regie Howard Davies/Bb. John Napier
Hauptdarsteller Judi Dench
Neuinszenierung
Sendeinfo 1984.11.08/SWF Kultur aktuell/SR/ORF Wien/Nachdruck: Darmstädter Echo

“Das Stück ist heute kein Stück mehr, das zu spät gekommen ist, nämlich nach einem Krieg. Schrecklicherweise droht ein neuer Krieg ... Ich möchte wissen, wie viele Zuschauer von ‘Mutter Courage und ihre Kinder’ die Warnung des Stückes heute verstehen”. Diese von tiefer Skepsis geprägte Bemerkung Brechts über die Aktualität der ‘Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg’ (“daß die Menschen aus dem Krieg nichts lernen“), ist auch nach dreißig Jahren so erschreckend aktuell geblieben wie die zentrale Botschaft des Stückes, das vor zwanzig Jahren zum letzten Mal auf einer Londoner Bühne zu sehen war: Krieg als die Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln.

“Wenn man die Großkopfigen reden hört”, sagt die Courage, “führens die Krieg nur aus Gottesfurcht und für alles, was gut und schön ist. Aber wenn man genau hinsieht, sinds nicht so blöd, sondern führen die Krieg für Gewinn. Und anders würden die kleinen Leut wie ich auch nicht mitmachen“. So viel begreift sie. Was sie, wie wir wissen, bis zum Ende des Stückes nicht begreift, ist die Tatsache, daß nur für ‘die Großkopfigen’ das Geschäft mit dem Krieg profitabel ist.

Die Neuinszenierung der Royal Shakespeare Company unter der Regie von Howard Davies hat diesen zentralen Gedanken des Stückes mit bemerkenswerter Konsequenz sichtbar gemacht und bleibt damit – wie in vielen anderen, weniger auffälligen Momenten – nah an den gerade hierzulande besonders häufig mißverstandenen Intentionen des Autors. Dies ist umso erfreulicher, als sich das viel geschmähte Didaktische hier nirgendwo in den Vordergrund drängt, das Stück sich als eines der theatralisch wirksamsten Bühnenwerke dieses Jahrhunderts beweisen darf und mit Judi Dench in der Titelrolle, vor allem bei den jüngeren, die ‘Mother Courage and her Children’ zum ersten Mal auf der Bühne sehen, eine neue Welle der Brecht-Begeisterung auslösen könnte.

Das Stück wird vorgestellt in einer neuen englischen Fassung des jungen Londoner Autors Hanif Kureishi, dem die ersten Kritiken, die nach der Premiere erschienen, für die “überaus eloquente und luzide Übersetzung, die alle möglichen versteckten Übergänge von Szene zu Szene offenbart“ vorbehaltlos gratulieren. Howard Davies hat sich von John Napier ein Bühnenbild bauen lassen, das in Anlehnung an die Modellbuch-Inszenierung aus einer leicht geschrägten Drehscheibe besteht, auf deren äußeren Radius der durch eine Deichsel mit dem Zentrum der Scheibe verbundene Wagen der Courage im Uhrzeigersinn gedreht wird, wobei er eine Art Kriegskarren, der im Laufe des Stückes verschiedenen Zwecken dient, als Gegengewicht mit sich führt. Die große Scheibe ist fast ständig umgeben von Rauchschwaden, die von ringförmig angeordneten Bodenlampen effektvoll von unten beleuchtet werden.

Die ersten Szenen werden in rasantem Tempo gespielt, das sich später, wenn der Wagen mühsamer zu laufen scheint, deutlich verlangsamt und erst in den überdreht hektisch wirkenden Schlußszenen dieser sonst sehr disziplinierten Aufführung bis zum Tod der Kattrin sich wieder beschleunigt. Judi Dench ist eine Courage, die sich von allen Darstellern der Rolle, die ich über die Jahre sah, durch ihre Agilität und äußerste Betriebsamkeit unterscheidet, blitzschnell reagierend, anfangs rotzfrech und sehr witzig, mit einer Motorik, die ihr auch später immer wieder hilft, sich aus den Kalamitäten zu ziehen, in die sie der offenbar unwiderstehliche Trieb des Geschäftemachers führt.

“Judi Dench, eine Schauspielerin mit legendärer Wärme”, schreibt der Kritiker der ‘Times’, “tut alles nur Mögliche, diese Wärme zu verdrängen und die Courage als Geschäftsfrau mit ledernem Herzen erscheinen zu lassen”.

Sie wirkt verschlagen, berechnend, widerwärtig in ihrer Gier nach Profit, verbrecherisch: die unsympathischste Courage, die sich denken läßt. Daß ihr am Ende, wenn sie der toten Tochter das Wiegenlied singt, das theatralische Temperament durchgeht, so daß der Schluß eine melodramatische Note bekommt, schmälert kaum noch ihren eindeutigen, großen persönlichen Erfolg.

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