Selten ist ein mit großem publizistischen Aufwand angekündigtes neues Bühnenwerk unter solchen Schwierigkeiten zustandegekommen. Die Geschichte begann im November 1983, als der englische Komponist Richard Blackford die Witwe des amerikanischen Bürgerrechtskämpfers Martin Luther King aufsuchte, um ihre Zustimmung für ein Projekt zu gewinnen, das auch heute (trotz ‘Jesus Christ Superstar’) noch einigermaßen abwegig erscheint: den 1968 ermordeten Friedensnobelpreisträger zum Helden eines Musicals zu machen. Zunächst war freilich von einer ‘Volksoper’ die Rede, ein Gedanke, für den Coretta King, die in jungen Jahren selbst an eine Karriere als Opernsängerin gedacht hatte, offenbar schnell zu begeistern war.
Blackford hatte bereits mehrere Opern sowie Orchesterstücke, Theater- und Filmmusiken komponiert. Ihm schwebte ein musikalisches Drama vor, das über die Grenzen zwischen der ernsten Oper und den populären Musiktraditionen der amerikanischen Schwarzen – Gospel, Freedom Songs, Jazz und Blues – hinausführen würde. Um sein Vorhaben zu verwirklichen, begab er sich zu einem einjährigen Studium der schwarzen Volksmusik in die USA. Richard Attenborough und Götz Friedrich wurden als Regisseure des neuen Werkes in Betracht gezogen. Attenborough schlug den international bekannten Opernsänger Simon Estes für die Hauptrolle vor. Die Schweizer Unternehmer Hans Flury und Peter Hargitay waren bereit, als Produzenten der Inszenierung den größten Teil der finanziellen Kosten zu tragen. Die schwarze amerikanische Bestsellerautorin Maya Angelou, die King persönlich gekannt und in der Bürgerrechtsbewegung eine prominente Rolle gespielt hatte, sollte die Texte der Lieder schreiben. Der Broadway-Autor Ron Milner legte den ersten Entwurf eines Stückes vor. Die Plattenfirma Decca erwarb die musikalischen Rechte. Und dann begannen die Schwierigkeiten.
Kings Witwe erhob Einspruch gegen das, was sie die “Trivialisierung” der Rolle ihres Mannes nannte, sowie gegen Anspielungen auf seine außerehelichen Affären. Angelou erklärte, sie wolle sich distanzieren; für die restlichen Liedtexte mußte ein neuer Autor engagiert werden. Mrs. King drohte mit einer gerichtlichen Klage. Nach mehrmaliger Verschiebung des Premierentermins, einem dritten und vierten Autorenwechsel, der Übertragung der Regie an ein Mitglied des Ensembles, der Verpflichtung von zwei prominenten Regisseuren der Royal Shakespare Company als so genannten Beratern und – last but not least – Konzessionen Kings Witwe gegenüber sowohl im Hinblick auf den Inhalt des Stückes, als auch auf eine größere Beteiligung an den erhofften Einspielgewinnen, kam es schließlich zur Einigung, und man durfte das Werk besichtigen.
“Jemand sollte ein Musical machen über die Entstehung des Musicals ‘King’”, höhnte der Kritiker des ‘Daily Telegraph’ nach der Premiere. “Das wäre wahrscheinlich unterhaltsamer“. Die Enttäuschung war groß und allgemein. Der kreißende Berg hatte eine Maus geboren, und es fiel schwer, nach dem dramatischen Gerangel um das Zustandekommen der Musical Show, keine Satire darüber zu schreiben.
Designer Timothy O’Brien hat (man weiß nicht warum) an der linken Seite des Bühnenrahmens einen gewaltigen künstlichen Eichenbaum aufstellen lassen, dessen Äste und Laubwerk, von weißen Vogelattrappen umflattert, in den fabrikhallenartigen Bühnenraum ragen und, zur Seite des Publikums hin, einen über die goldfarbene Stuckatur der vorderen Logen gemalten dunkelgrün gefleckten Schatten werfen. Nach einer kurzen symbolträchtigen Szene tanzender Baumwollpflücker schwebt der selige Dr. King mit dem vergoldeten Pult seiner Stockholmer Friedensnobelpreisrede aus den Himmeln hernieder und singt von den “Namenlosen der Erde”, für die er den Preis entgegennehme.
Dem Vorspiel folgen, von kurzen Dialogen eingeleitet, zwei Dutzend Songs meist sehr banalen Inhalts, die von der Bedeutung des historischen Martin Luther King so gut wie gar nichts übertragen. Simon Este und seine kaum weniger berühmte Partnerin Cynthia Hayman in der Rolle der Ehefrau Coretta King singen mit schöner Stimme vom “Preis der Freiheit“ und, hübsch alliterierend im Duett, von “Mitternacht, Morgen und Mondenlicht“. Sie versichern einander, daß nur die Liebe von Dauer sei und man sich nur in den Armen des Geliebten sicher fühle. Dabei stehen die beiden großen Stars so verlegen und steif auf der Bühne herum, als seien sie von allen guten Geistern verlassen, als ahnten sie, daß sie hier auf verlorenem Posten kämpfen.
Die meisten der Szenen spielen in atmosphärelosen Räumen – in Vorzimmern, Wartesälen, Büros, in einer Garage oder auf leeren Straßen und Plätzen. Und so ungenau, vage wie die Orte der Handlung sind auch die Inhalte, die Ereignisse selbst. Nichts von dem, was auf der Bühne geschieht, was die singenden oder sprechenden, unmotiviert gestikulierenden oder tänzelnden Gestalten tun oder sagen, scheint irgend von Interesse zu sein. Keines der Lieder zündet, und große Langeweile breitet sich aus.
Das Erstaunlichste aber ist, daß auch Simon Este, der seine Rolle mit größter Begeisterung annahm, von dem Charisma, der Aura und Autorität des Mannes, den er verkörpert, rein gar nichts herüberbringt und trotz seiner mächtigen Stimme ganz ausdruckslos bleibt.
“Nach anderthalb Stunden des ersten Aktes wissen wir weniger über den großen Führer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung als vor Beginn der Vorstellung“, meinte der Kritiker der ‘Daily Mail’. “Große Männer sterben zweimal“, hieß ist in der ‘Sunday Times’. “Es ist ein Projekt auf der Suche nach einem Ziel, das es nie erreicht“, schrieb der Kritiker des ‘Guardian’. Und in der Zeitung ‘The Independent’ hieß es: “Die Autoren des Musicals haben auf verhängnisvolle Weise vergessen, daß es die inneren Konflikte und Widersprüche sind, die große Männer dramatisch machen“.
‘King, the Musical’ endet mit der Vertonung der berühmten Passage ‘I have a dream’ aus Kings Rede vor dem Lincoln Memorial in Washington. Daß man 22 Jahre nach seinem Tod für den Luxus eines armseligen Musicals nicht weniger als dreieinhalb Millionen Pfund (zehn Millionen Mark) zu zahlen bereit sein würde, das hätte sich der wirkliche Martin Luther King gewiß nicht träumen lassen.