die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1992
Text # 277
Theater
Sendeinfo 1993.01.05/DS Kultur

Wer das britische Theater kennt oder gar selbst dazu beigetragen hat, die Vorstellung zu verbreiten, daß London noch immer Anspruch darauf erheben dürfe, eine der großen Theatermetropolen der Welt zu sein, muß enttäuscht bekennen, daß das zurückliegende Jahr ein an theatralischen Höhepunkten ungewöhnlich dürftiges Jahr gewesen ist und die Aussichten auf eine Verbesserung der Bedingungen hierzulande alles andere als rosig sind.

Man weiß, daß bei den Briten manches im argen liegt; daß es der britischen Wirtschaft nicht gut geht; daß die Kluft zwischen Armen und Reichen im Lande größer geworden ist als irgendwo sonst in Europa; daß die Zahl der Arbeitslosen, der unter der Armutschwelle Lebenden, der Obdachlosen ständig weiter wächst. Wie katastrophal die Lage inzwischen wirklich geworden ist, ahnen die wenigsten.

Von der allgemeinen Misere sind natürlich auch die Künste betroffen. Viele der sogenannten Theater am Rande, die früher die Szene belebten und auch für die großen Bühnen als Vorreiter, Anreger, Experimentatoren wichtig waren, sind durch die Verhältnisse über den Rand hinaus gedrängt worden. Die Arbeit der übrigen ist braver und zahmer geworden; einjeder versucht, auf Nummer sicher zu gehen. Der Mut zum künstlerischen Risiko ist ein Luxus geworden, den die Mehrheit der immer mehr vom zahlenden Publikum, also von der Verkäuflichkeit ihrer Ware abhängigen Theater sich kaum noch leisten kann. So nimmt es nicht Wunder, daß selbst bei den vergleichsweise finanzkräftigen, für britische Verhältnisse hoch subventionierten Schauspielbühnen, den theatralischen Hochburgen des Landes wie Nationaltheater und Royal Shakespeare Company, das künstlerische Angebot dürftiger, Exzellenz seltener geworden ist.

Umso mehr war man darüber erfreut, vor dem Ende des alten Jahres noch über ein Ereignis berichten zu können, das nicht nur wegen seines aktuellen Themas ‘Schuld und Sühne’ besonderes Interesse, sondern auch als Aufführung uneingeschränktes Lob verdiente. Peter Shaffers neues Schauspiel ‘The Gift of the Gorgon’ (Die Gabe der Gorgo), vorgestellt von der Royal Shakespeare Company in der Inszenierung von Peter Hall, ist ein eindrucksvolles Plädoyer für Humanität und Vernunft gegen den Wahn, eine Gesellschaft müsse an denen, die sich vergangen haben, Vergeltung üben und sich an Gewalttätern mit entsprechend gewalttätigen Strafen rächen. Der Menschheit sei zuzumuten (scheint Shaffer sagen zu wollen), den verhängnisvollen Kreislauf der Zerstörung zu durchbrechen, dem versteinernden Blick der Medusa standzuhalten und das Böse durch Versöhnung zu überwinden.

Die vorzügliche Aufführung im kleinen Londoner Theater der Royal Shakespeare Company The Pit mit Dame Judi Dnch und Michael Pennington in den Hauptrollen bleibt vorläufig im Repertoire des Ensembles und wäre allein schon eine Reise nach London wert. Der Besucher hätte dabei auch Gelegenheit, jene Schattenseite der britischen Wirklichkeit kennenzulernen, deren Symbol die Tausende von Obdachlosen sind, die auf den Straßen und Plätzen der britischen Städte, in Kartons unter Brücken, in verfallenen Lagerhallen, in Hauseingängen oder in Parks unter freiem Himmel nächtigen und deren furchtbare Not die Beschäftigung mit schöngeistigen Dingen, die wir doch brauchen, um am Irrsinn der Welt nicht den Verstand zu verlieren, fast obszön erscheinen läßt.

Aus einer im Dezember veröffentlichten Untersuchung der karitativen Organisation ‘Crisis at Christmas’ (wörtlich: Krise zu Weihnachten) geht hervor, daß in Großbritannien heute rund achttausend Menschen ständig, zwanzigtausend von Zeit zu Zeit ohne ein Dach über dem Kopf, also bei Wind und Wetter im Freien übernachten; daß die durchschnittliche Lebenserwartung eines Obdachlosen in England nur 47 Jahre beträgt; daß die Möglichkeit, eines unnatürlichen Todes zu sterben, bei Obdachlosen einhundertfünfzig mal höher ist und siebenundsechzig Prozent dieses Schicksal ereilt; und daß Selbstmord die häufigste Todesursache unter Obdachlosen ist. Entgegen einem alten Vorurteil, war nur bei fünf Prozent der registrierten Todesfälle von Obdachlosen Alkohol die Todesursache. Fünfundsechzig Prozent der genannten Todesfälle hätten wahrscheinlich verhindert werden können.

Diese erschreckenden Zahlen werfen Licht auf Verhältnisse, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung auch in Großbritannien kaum wahrgenommen und dann schnell verdrängt werden. Damit uns beim weihnachtlichen Festschmaus kein schlechtes Gewissen den Appetit verdirbt, wir ohne die Spur eines Unrechtempfindens unsere Geschenkorgien veranstalten oder an Silvester für Millionenbeträge Feuerwerkskörper in die Luft jagen können, stellen wir uns blind gegen die Not der Habenichtse und reden uns ein, ihr Elend sei selbstverschuldet.

Solche und ähnliche Gedanken aber führen ins Zentrum der Theaterarbeit von Jeremy Weller, dessen Inszenierung ‘Mad’ allgemein als eines der bedeutendsten Ereignisse des diesjährigen Edinburgh Festival galt; während die andere Aufführung, an die ich noch einmal erinnern möchte, ebenfalls aus dem Rahmenprogramm des schottischen Festivals, von den meisten Kritikern gar nicht wahrgenommen wurde.

‘Mad’ (Verrückt) war der dritte Teil einer Trilogie, die zwei Jahre davor mit dem Obdachlosenstück ‘Glad’ (Froh) begann, 1991 mit ‘Bad’ (Schlecht), einer Arbeit über jugendliche Strafgefangene, fortgesetzt wurde und mit einem Stück über eine andere Außenseitergruppe der Gesellschaft – junge Frauen, die in Nervenheilanstalt gewesen waren – ihren Abschluß fand. Das Besondere daran war die Tatsache, daß die meisten Darsteller keine gewöhnlichen Schauspieler waren, sondern Personen, die ihr eigenes Schicksal zum Gegenstand der Darstellung machten.

Nach dem spektakulären Erfolg der in Edinburg vorgestellten Arbeiten wurde der englische Regisseur Jeremy Weller eingeladen, an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ein ähnliches Projekt mit Berliner Obdachlosen zu realisieren, das unter dem Titel ‘Die Pest’ im November und Dezember vorgestellt worden ist. Nach Aussagen von Beteiligten ist dabei manches schiefgegangen und das Vorhaben nur teilweise geglückt. Anders in Edinburg: daß es gelang, die auch dort zunächst als schier unüberwindbar angesehenen Schwierigkeiten zu meistern und aus den persönlichen Erfahrungen der Darsteller Inszenierungen zu entwickeln, die zum besten gehören, was das britische Theater in den letzten Jahren zu bieten hatte, bleibt eine theaterhistorisch bedeutsame Tat. Wellers Arbeit schien mir (und scheint noch immer) so wichtig, weil sie im Unterschied zu anderen Formen des Theaters, die es uns leicht machen, die realen Probleme zu verdrängen, mit echtem Leid konfrontiert, das, anders als jede Fiktion, uns daran gemahnt, daß es nicht nur auf die Darstellung, auf Abbildung, sondern vor allem auf die Lösung solcher Probleme ankommt.

Was natürlich nicht heißen soll, daß andere Formen der poetischen Überwindung realer Gegebenheiten, die nach wirklicher Veränderung schreien, keine Berechtigung hätten. Wenn auch das Wort heute verpönt ist, weil keiner mehr weiß oder wissen will, was es bedeutet, bleibt doch der Begriff von dem, was einmal ohne Gefahr vor dümmlichen Mißverständnissen Utopie genannt werden durfte. Und dies gibt mir das Stichwort für die dritte der Inszenierungen des vergangenen Jahres, die es verdienen, noch einmal ausdrücklich genannt zu werden: die Aufführung des Stückes ‘Ewige Jugend und Leben ohne Tod’, entwickelt von rumänischen Schauspielschülern der Akademie für Theater und Film in Bukarest unter der Regie von Nona Ciobanu. Weil die Truppe einen längeren Aufenthalt im Ausland sich nicht leisten konnte, reiste sie bereits am Ende der ersten Festivalwoche ab, als die meisten der in Edinburg weilenden Kritiker von den jungen Rumänen noch keine Notiz genommen hatten. So blieb eine der schönsten, eindrucksvollsten und poetischsten Aufführungen des schottischen Festivals und eine fabelhaft begabte junge Theatertruppe bis heute so gut wie unentdeckt.

Erlauben Sie mir, als kleine Geste der Wiedergutmachung an Nona Ciobanu und ihren sechs Darstellern aus Bukarest, zum Schluß einige Sätze aus meinem Bericht über das außergewöhnliche Ereignis zu zitieren:

“Mit der Geschichte des Helden der rumänischen Volkssage, der sich weigert, geboren zu werden, bis man ihm ewige Jugend verspricht, ... öffnet die Truppe die Tür in eine Märchenwelt, die Welt des reinen Spiels, die mit kindhafter Phantasie ausgelebt wird, alle Not der uns umgebenden Realität überwindet und in ein Paradies schauen läßt, das dem, der es findet, die Erfahrung zeitlosen Glücks verheißt.

Die Truppe spielt ohne Bühnenbild und Kostüme und ohne Beleuchtungswechsel auf und mit einem kleinen Podest, das sich in einzelne Elemente zerlegen läßt, die sich wie die Darsteller selbst fortwährend verwandeln und ihre Bedeutung verändern. Mit einer kindhaften Spiellust, die in dieser Hinsicht fast alles übertrifft, was ich je gesehen habe, mit artistischer Beweglichkeit, voller Witz und Übermut, in jeder Geste, jedem Ton bis ins kleinste formalisiert und doch traumhaft gelöst, führt sie uns in das selten betretene Niemandsland der Phantasie, in welchem Theater zuhause ist, und macht uns bekannt mit einer Sprache des Ausdrucks, die fremd und neu erscheint und doch viel mehr als die uns vertraute zu sagen weiß”.

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