die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1983
Text # 178
Autor David Hare
Theater
Titel A Map of the World
Ensemble/Spielort National Theatre/London
Inszenierung/Regie David Hare
Hauptdarsteller Roshan Seth
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1983.01.28/DLF/WDR/ORF Wien 1983.01.29/SWF Kultur aktuell/RB/SFB/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

“Eine Karte der Welt, die nicht auch das Land Utopia zeigt, verdient nicht angeschaut zu werden“. Ein Wort von Oscar Wilde und Motto des neuen Stückes von David Hare ‘A Map of the World’, das im März des vergangenen Jahres beim Adelaide Festival in Australien uraufgeführt wurde und nun im Lyttelton Theatre des Nationaltheaters Premiere hatte.

Utopia, nicht der Begriff des Unerreichbaren, sondern “der Ort, an dem die Menschlichkeit an Land geht“, Inbegriff der Hoffnung auf die reale Möglichkeit von Veränderung. David Hares ‘Karte der Welt’ zeigt die Konturen des Unrechts, das schreiende Mißverhältnis zwischen reichen und armen Ländern, die erbärmliche Heuchelei der Vertreter westlicher Zivilisation, die unter dem neuen Namen ‘Entwicklungshilfe’ die jahrhundertealte Politik der schamlosen Ausbeutung der Schwächeren fortsetzen dürfen. “Ihr werft uns ein Rettungsseil zu“, heißt es gegen Ende des Stückes, “doch das Rettungsseil hat die Form einer Schlinge“.

Im Zentrum der Handlung steht die Begegnung eines jungen Journalisten mit einem Schriftsteller indischer Abstammung, der seit seinem 15. Lebensjahr in England lebt, dort Schulen und Universitäten besuchte und als in Europa gefeierter Romanautor eingeladen wurde, bei einer UNESCO-Konferenz über Welthungerhilfe in Bombay einen Vortrag zu halten. Die Begegnung wird zum Anlaß eines geistigen Schlagabtauschs der beiden Männer.

Stephen ist freier Mitarbeiter einer links engagierten literarischen Zeitschrift. Er kennt die Bücher des prominenten Autors Victor Mehta, bewundert sein schriftstellerisches Talent, aber verabscheut dessen defätistische Haltung, die arrogante Herablassung eines Renegaten, eines Mannes, der in jungen Jahren der Armut seines Heimatlandes Indien entfliehen konnte, heute als Sprachrohr einer Ideologie, die von der Superiorität westlicher Zivilisation durchgedrungen ist, die bescheidenen Ansätze zur Unterstützung der armen Länder durch sarkastische Kritik an der Bürokratie der internationalen Behörden bewußt boykottieren zu wollen scheint.

Durch die Anwesenheit einer amerikanischen Schauspielerin, um deren Gunst beide Männer werben, entsteht auch eine sexuelle Rivalität. Stephen und Victor lassen sich überreden, einen geistigen Wettkampf auszutragen, wonach dem Sieger die schöne Peggy gehören soll. Stephen, der jüngere, gewinnt das sonderbare Duell, kommt aber noch in derselben Nacht bei einem Eisenbahnunglück ums Leben.

Was das Stück neben seiner Thematik (der Konflikt zwischen Arm und Reich, Realität und Fiktion, Ratio und Emotionalität) so reizvoll macht, ist seine formale Gestaltung. Erst am Ende der ersten Szene wird uns durch trickreiche Verwandlung des Bühnenbildes offenbar, daß es hier um die Verfilmung eines Romans geht, den der Autor Victor Mehta nach seinem Besuch jener Konferenz in Bombay schrieb. Und das Stück endet mit dem Auftritt des ‘wirklichen’ Mehta, der dem Regisseur des Films den Vorwurf macht, er habe die literarische Vorlage verfälscht; wodurch die Frage der Interpretation um einen neuen Aspekt erweitert wird.

David Hare spielt mit der Verschiebung der Realitätsebenen auf eine Weise, die es dem Zuschauer schwer macht zu unterscheiden, ob er es jeweils mit den Personen selbst, ihren Filmcharakteren oder deren Darstellern zu tun hat; ein Verwirrspiel, das nicht nur für Spannung sorgt, sondern auch die Mitspielbereitschaft des Publikums auf harte Proben gestellt. Mit der Kritik seines Autors an der Verschiebung des moralischen Konflikts auf die Ebene eines romantischen Abenteuers hat der Autor Hare zugleich sich selbst eine Art Rückversicherung eingebaut, welche auch die Möglichkeit einer kritischen Überprüfung seines raffiniert verschachtelten Bühnenwerkes erschwert.

In der Aufführung des Nationaltheaters läßt Hare als sein eigener Regisseur etwas allzu genüßlich auf die brillanten sprachlichen Pointen zielen. Was bleibt, ist der Eindruck eines mutigen Plädoyers gegen die Verlogenheit und Arroganz der reichen Länder und ihre Ausbeutungspolitik sowie die Erinnerung an Roshan Seth (den Nehru-Darsteller in Attenboroughs neuem Gandhi-Film), hier in der facettenreichen Rolle des indischen Schriftstellers Victor Mehta.

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