“Theaterstücke sind wahrhaftiger als alles, was über sie gesagt werden kann“. Die Wahrheit dieser Bemerkung von David Hare erweist sich bei jedem Versuch kritisch analysierender Beschreibung einer Erfahrung, die sich nur sehr bedingt verbalisieren läßt, weil die Unauflösbarkeit künstlerischer Gebilde und ihrer Figuren so sehr zu ihrem Wesen gehört, daß man das Unsägliche an ihnen geradezu als Kriterium von Kunst schlechthin verstehen darf.
David Hares neues Stück ‘Plenty’ (Überfluß), uraufgeführt im Londoner Nationaltheater unter der Regie des Autors, schließt thematisch an seinen Fernsehfilm ‘Licking Hitler’ an. Der Film beleuchtete die Arbeit einer Abteilung des britischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg, die durch sogenannte schwarze Propaganda, die Simulierung privater Sprechfunkverbindungen zwischen prominenten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und hohen deutschen Militärs, die Moral des Feindes zu unterminieren versuchte.
‘Plenty’ zeigt in zwölf episodenhaften Szenen Ausschnitte aus dem Lebensweg einer jungen Frau, die 1942 im Alter von siebzehn Jahren nach Frankreich entsandt wird, um als Kurier für die Résistence zu arbeiten, ein Erlebnis, das sie entscheidend prägt. Die Hoffnung, daß man die Möglichkeiten eines alles umfassenden Neubeginns nach dem Ende des Krieges ernst nehmen und das traditionelle soziale Verhalten, Kommunikation auf der Basis von Heuchelei, die berüchtigte britische Klassenhierarchie, den hohlen Anspruch auf nationaler Superiorität ein für allemal aufgeben werde – diese Hoffnung bleibt unerfüllt; der Optimismus, bald wird Frieden sein, wir werden im Wohlstand leben, im Überfluß, bis ans Ende unserer Tage – eine Illusion. Die Ideale, an die man seinerzeit glaubte, haben zwar nichts von ihrem tieferen Wert verloren, aber das Verhältnis zur Realität; monomanisch eigensinnig durchgefochten, wirken sie destruktiv.
Hares Stück ist komplex, die Charaktere sind widersprüchlich, die Widersprüche nicht auflösbar. Zwei beinahe gänzlich entgegengesetzte Interpretationen der Hauptfigur und ihrer Entwicklung bieten sich an und machen die Auseinandersetzung mit dem Werk problematisch. Susans Anspruch auf Unbedingtheit und kompromißloser Ehrlichkeit diskreditiert ihre Umwelt, entlarvt die berühmte britische Diplomatie, das Gesellschaftsspiel der liberalen Höflichkeiten, als pure Lüge und Heuchelei. Andererseits bleibt Susan selbst in ihrem Verhalten so weit hinter dem eigenen Anspruch auf konsequentem Handeln zurück, daß der Vorwurf, auch sie sei egozentrisch, rücksichtslos und zerstörerisch, die Verfolgung ihrer persönlichen Ideale gehe auf Kosten ihrer Mitmenschen, für die ihr jedes Mitgefühl fehle, nicht unberechtigt erscheint.
Nach dem Ende des Krieges macht sich Susan zunächst in Export-Import-Geschäften, dann in der Werbung, dem Handel mit Lügen, zu schaffen, heiratet einen Diplomaten, teilt trotz innerer Konflikte sein von gesellschaftlicher Etikette vorgezeichnetes Leben und ruiniert schließlich mit ihren unverschämt provozierenden Kommentaren zur politischen Moral seine Karriere. Die Erinnerung an eine nächtliche Begegnung mit einem britischen Fallschirmspringer 1943 in Frankreich, so flüchtig, daß sie nicht einmal seinen wirklichen Namen erfuhr, wird zur ständig wiederkehrenden, romantisch verklärten Vision jener fernen Zeit, in der sie wirklich sinnvoll gelebt zu haben glaubt.
‘Plenty’ ist kein Stück mit einer einfachen Moral. Es beobachtet Menschen in einem Land, dessen Dekadenz von den Höhen einer Weltmacht zur internationalen Bedeutungslosigkeit sich in den Formen des gesellschaftlichen Umgangs niedergeschlagen hat und als ein Verfall moralischer Werte gedeutet werden kann. Es ist ein Stück, das durch die den Figuren eingeschriebene Problematik, ihre immanenten Widersprüche fasziniert, ein Stück mit vielen offenen Enden, das mit den an den Personen verinnerlichten Konflikten einen Teil der ungelösten, doch vermutlich lösbaren Konflikte der britischen Nachkriegsgesellschaft erhellt.
Die Inszenierung im Lyttelton Theatre des Nationaltheaters besticht, wie alle Arbeiten des Regisseurs David Hare, durch Klarheit der Diktion in Wort und Bild. Hare hat das Stück seiner Hauptdarstellerin Kate Nelligan gewidmet, deren äußerlich kühl und selbstbewußt wirkende Erscheinung ein zartes, labiles Innenleben verbirgt. Kate Nelligans wunderbar transparente Darstellung der problematischen Rolle macht selbst die wenigen leichter gewichtigen Passagen des Textes zu sprachlichen Kostbarkeiten: Das großartige Porträt eines unauflösbar gebrochenen weiblichen Charakters.