die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 85
Theater/ Kulturpolitik
Sendeinfo 1975.07.29/ DLF 1975.07.31/SFB/SWF Kultur aktuell Nachdruck: Darmstädter Echo/National-Zeitung Basel

Die soeben veröffentlichte August-Ausgabe der englischen Theaterzeitschrift ‘Plays and Players’ enthält eine ausführliche Untersuchung über die "Krise des britischen Theaters". Die Krise, von der die Rede ist, betrifft im Gegensatz zur Situation auf dem Kontinent, wo seid Jahren davon gesprochen wird, erfreulicherweise nicht den künstlerischen Stand des Theaters. Kein anderes Land der Welt hat in den vergangenen Jahrzehnten so viel bedeutende Theaterautoren hervorgebracht. Kein anderes Land des Westens hält einen höheren Standard der Schauspielkunst. Mit guten Gründen darf London heute als europäische Theatermetropole gelten.

Woran fehlt es also? Natürlich am Geld: Die britische Theaterkrise gehört zur britischen Wirtschaftskrise, die in diesem Jahr mit einer monatlichen Inflationsrate von 4 %, trotz halbherziger Maßnahmen der Regierung zur Drosselung des sich immer schneller drehenden Verteuerungskarussells, einem katastrophalen Tief zuzutreiben scheint.

Besonders bemerkenswert am berühmten englischen Theaterwunder ist die Tatsache, daß der Staat und die Kommunen bisher sehr viel weniger Geld zur Förderung der Bühnenkunst aufgebracht haben als andere europäische Länder, ein Beweis dafür, daß höhere Subventionierung der Künste nicht automatisch zu qualitativ besseren Ergebnissen führt. Die britischen Bühnen sind mit öffentlichen Zuschüssen, die eine kontinuierliche Arbeit garantieren, nicht gerade verwöhnt worden. Da aber heute kein Theaterensemble ohne regelmäßige Subventionen bestehen kann, hat der für die Vergabe staatlicher Zuschüsse zuständige Arts Council die Subventionen den unentwegt steigenden Kosten durch allmähliche relative Erhöhungen anzugleichen versucht.

In diesem Jahr sah sich der Arts Council zum ersten Mal außerstande, mit dem Tempo der inflationären Entwicklung schrittzuhalten. Eine Reihe von Bühnen weiß am Beginn des Haushaltsjahres noch nicht, ob sie die zur Aufrechterhaltung des Betriebs dringend benötigten Gelder bis zum Jahresende erhalten werden. Andere wurden ausdrücklich gewarnt, nicht über einen bestimmten Zeitpunkt hinaus zu planen.

Die Kritik an der Subventionierungspolitik des Arts Council, der den bei weitem größten Teil der für theatralische Projekte verfügbaren Gelder an vier Mammutbetriebe ausgibt und die Vielzahl der kleineren Bühnen vernachlässigt, ist vorübergehend in den Hintergrund getreten, weil einer der vier Giganten, nämlich die Royal Shakespeare Company, am deutlichsten Opfer der neuen Rationalisierung geworden ist. Die Royal Shakespeare Company braucht in diesem Jahr zur Deckung der laufenden Kosten für ihre beiden Häuser in Stratford und London einen Zuschuss in Höhe von £880.000 (das sind etwa viereinhalb Millionen Mark), eine für deutsche Bühnen vergleichbarer Größe sehr bescheidene Summe. Der Arts Council will jedoch nur maximal £680.000 zur Verfügung stellen. Der künstlerische Direktor der Royal Shakespeare Company, Trevor Nunn, hat darum in einer großen Publicity-Kampagne darauf verwiesen, daß kein anderes Repertoiretheater der Welt so viel Geld über den Kartenverkauf einspiele wie die Royal Shakespeare Company, die 78 % ihrer jährlichen Ausgaben selbst decke. Weitere Einsparungen seien nicht möglich. Wenn die Company nicht die fehlenden £200.000 auftreiben könne, müsse sie die Londoner Bühne im kommenden November schließen, ein Schritt, der für die künstlerische Arbeit des Ensembles katastrophale Folgen haben und das baldige Ende der Royal Shakespeare Company bedeuten könne.

Nun läßt sich nicht leugnen, daß der Arts Council dem Nationaltheater seit je die Rolle des Lieblingskindes eingeräumt hat. Im Unterschied zur RSC bespielte das Nationaltheater bisher nur eine Bühne, die des Old Vic, erhielt aber höhere Zuschüsse als die Royal Shakespeare Company, die praktisch zwei Theaterbetriebe damit finanzieren mußte. Andererseits versteht man die Entrüstung der Kleinbühnen, wenn sie erfahren, daß die vier Giganten, die den Löwenanteil der Subventionen bekommen, immer höhere Ansprüche stellen. Wie Charles Marowitz, Leiter des Open Space Theatre und prominentester Kritiker der Subventionierungspolitik des Arts Council, vor kurzem schrieb: “Es ist eine Tatsache, daß Royal Shakespeare Company und National Theatre schon jetzt davon profitieren, daß kleinere Theater die Arbeit einstellen oder erheblich reduzieren müssen”.

Im vergangenen Sommer hatte eine Gruppe von Künstlern und Wissenschaftlern in einem kritischen Bericht über die Verteilung der staatlichen Zuschüsse festgestellt, daß zum Beispiel die Summe der Gehälter für die nicht-künstlerischen Bediensteten der Covent Garden Opera allein schon mehr als doppelt so hoch sei wie der Betrag, der für die kreativen Künstler des ganzen Landes aufgebracht wird. Würde man Covent Garden (so hieß es) nur ein Jahr lang schließen, könnte man mit den dabei eingesparten Geldern fünfzig Symphonien in Auftrag geben, hundert Bühnenstücke, drei bis vier Opern, zehn Gedichtanthologien und fünfzig Romane, und außerdem fünfzig bildende Künstler ein Jahr lang ernähren.

Der bevorstehende Umzug der National Theatre Comapny in ihr neues Haus am Ufer der Themse und die damit verbundene beträchtliche Erweiterung des Gesamtbetriebs wird den Arts Council zu einer so enormen Erhöhung der bisherigen Subventionen zwingen, daß einige Kritiker davon als der ‘Wurzel der Krise’ sprechen, einer Krise, die nur wenige Theater verschont hat und unter anderem auch zur Schließung des für die Entdeckung neuer Bühnenautoren so wichtigen Theatre Upstairs führen wird, weil das Royal Court Theatre, von dessen Subventionen es abhängig war, mit einem ungedeckten Defizit von £100.000 am Ende der laufenden Spielzeit rechnet.

Da sich der Staat die Aufrechterhaltung der beiden großen, rivalisierenden Schauspieltheater – National Theatre und Royal Shakespeare Company – wie manche meinen, eigentlich nicht mehr leisten kann, schlägt ‘Plays and Players’ vor, die alte Idee einer Verschmelzung bzw. Assoziierung beider Institutionen im Hinblick auf die Möglichkeiten, welche das neue Gebäude des Nationaltheaters bieten wird, neu zu durchdenken.

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