Der Kunstkritiker Richard Cork wurde vor einiger Zeit gebeten, für die traditionelle Jahresausstellung der Londoner Serpentine Gallery unter den eingereichten Arbeiten eine Auswahl zu treffen. Als erklärter Feind der heute herrschenden Kunstpolitik, die, wie er meint, die Künstler zu Handlangern des Kapitalismus gemacht hat, schlug er stattdessen vor, eine Anzahl von Künstlerkollektiven einzuladen, ihre Arbeiten auszustellen. Was dabei zustandekam, präsentiert die Serpentine Gallery seit einigen Wochen unter dem suggestiven Titel ‘Art for whom?’ (Kunst für wen?). Die Ausstellung besteht aus Arbeiten von Künstlern, die sich bewußt mit gesellschaftspolitischen Problemen unserer Zeit auseinandersetzen und davon überzeugt sind, daß Kunst (nach den Worten von Richard Cork) “direkten Einfluß nehmen kann im Sinne einer Veränderung des Lebens der Menschen im ganzen”. Ausgestellt wurden Gewerkschaftsbanner, Produkte aus Gemeinschaftsprojekten, Fotos von riesigen Wandgemälden, Videotape-Aufzeichnungen, die in bestimmten Arbeitskonflikten als Aufklärungs- und Agitationsmittel Verwendung gefunden hatten, Schulprojekte und ähnliches.
Die offizielle Reaktion auf die Ausstellung war überwiegend ablehnend; sie richtete sich vor allem gegen die polemische, allzu pauschale Ablehnung aller Stilrichtungen und Ausdrucksformen der modernen bildenden Kunst. Die Kritiker wiesen ihre marxistischen Kollegen darauf hin, daß marxistische Ästhetik durch die Schriften von Adorno, Benjamin, Breton, Barthes und andere inzwischen zu einem sehr viel komplexeren Verständnis der Zusammenhänge geführt habe.
Auf die suggestive Frage ‘Kunst für wen?’ gibt der Titel einer soeben in der Londoner Whitechapel Art Gallery eröffneten neuen Ausstellung die erwartete und so allgemein wohl einzig mögliche Antwort: ‘Art for Society’ – ‘Kunst für die Gesellschaft’. Sie umfaßt Werke von nicht weniger als neunzig britischen Künstlern, deren Arbeit auf gesellschaftspolitische Themen bezogen ist. Zweck der Ausstellung ist es, eine Übersicht über die Vielfalt der Konzeptionen, Arbeitsmethoden und Techniken im Bereich der sozialpolitisch engagierten Kunst in Großbritannien zu geben und die Frage, ob Kunst einen politischen Standpunkt haben und bewußtseinsverändernd wirken wollen sollte, öffentlich zu diskutieren. Die ausgewählten Arbeiten reichen von Beispielen direkter Dokumentation über agitatorische Appelle, sarkastische Darstellungen der Auswüchse einer rigiden Klassengesellschaft und Solidaritätserklärungen für bestimmte soziale oder politische Bewegungen bis zur Auseinandersetzung mit den Folgen der Arbeitslosigkeit und den Phänomenen Rassendiskriminierung und Neofaschismus.
‘Art for Society’ will informieren und aufklären. Die Whitechapel Art Gallery liegt im kulturellen Notstandsgebiet des Londoner Ostends, dem traditionellen Proletarier- und Kleingangstermilieu. Etwa die Hälfte ihrer Besucher wohnt oder arbeitet in ihrer näheren Umgebung. Die Galerie hat darum das Bedürfnis, vor allem Menschen anzusprechen, die aufgrund ihrer sozialen Position mit esoterischen Werken der Kunst nichts anzufangen wissen. Sie will ihnen glaubhaft machen, daß Kunst nicht mehr nur für eine elitäre Minderheit da ist, sondern für alle und daß sie sich auseinandersetzt mit den Fragen des täglichen Lebens, die uns alle angehen, vor allem aber diejenigen betreffen, die an den Segnungen der kapitalistischen Gesellschaft nicht oder nicht genügend teilhaben, obwohl sie, die Mehrheit der Lohnabhängigen, die Basis bilden, auf der das System beruht und ohne die es nicht sein kann.
Beide Ausstellungen, die der Serpentine Gallery wie die in Whitechapel, stehen in engem Zusammenhang und ergänzen einander. Richard Cork ist einer der Juroren, die aus den eingesandten Arbeiten von über 300 Künstlern eine repräsentative Auswahl trafen, welche durch ihren unerwarteten Reichtum an Ideen und Formen beeindruckt und die Frage nach dem Stellenwert der zeitgenössischen Kunst wieder ins Gespräch bringt. Nach den Worten von Margaret Richards, einem Mitglied des Auswahlkomitees: “Als soziale Wesen brauchen wir visuelle und verbale Hinweise auf unser Arbeitsleben und das anderer Menschen, auf unsere Lebensbedingungen, auf Gewalt, Materialismus, Menschenrechte, Rassismus, Sexismus, Klasse, auf die nukleare Bedrohung sowie auf Probleme, die Veränderungen verlangen. Die Künstler können von diesen Problemen ebenso wenig absehen wie alle anderen Menschen. Sie können etwas projizieren, was wir nicht immer beim Lesen der Zeitung oder vom Fernsehen erschließen können. Ich erwarte nicht, daß sie uns belehren oder predigen, sondern daß sie ihre persönlichen Gefühle und ihren Sinn für soziale Bedingungen ausdrücken und es uns überlassen, von da aus weiterzudenken”.