die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 89
Autor David Hare
Theater
Titel Fanshen
Ensemble/Spielort Joint Stock Theatre Company/Institute for Contemporary Arts (ICA)/Hampstead Theatre Club/London
Inszenierung/Regie William Gaskill & Max Stafford-Clark
Uraufführung
Sendeinfo 1975.04.25/SWF (Erstfassung) Nachdruck: Darmstädter Echo/National-Zeitung Basel 1975.08.16/DLF/SFB (Zweitfassung)

[ Anmerkung: Die hier wiedergegebene Zweitfassung des Berichts ist bis auf den ersten Absatz mit der Erstfassung identisch ]

Die Premiere begann mit einer halben Stunde Verspätung. Hampstead stand unter Wasser. Die Straßen glichen reißenden Flüssen. Die Fluten stiegen bis über einen Meter an. Das Foyer des Hampstead Theatre Club war überschwemmt, es regnete durchs Dach in den Zuschauerraum, auf die Bühne. Das Publikum, das trotz des Unwetters den Weg ins Theater gefunden hatte, teilweise barfuß, bis auf die Haut durchnäßt, applaudierte, als einer der Regisseure mitteilte, man werde versuchen, dennoch zu spielen, wenngleich man etwas improvisieren müsse, weil auch die Garderoben der Schauspieler überflutet seien; einige Auftritte und Abgänge durch den Zuschauerraum müßten entfallen, weil man die Hintereingänge zur Bühne nicht benutzen könne. – Eine ungewöhnliche Situation, die freilich dem Stück, für das man die Launen des Wetters auf sich genommen hatte, wie sich herausstellen sollte, in keiner Weise abträglich war.

‘Fanshen’ von David Hare basiert auf dem dokumentarischen Bericht des Amerikaners William Hinton, der 1930 zum ersten Mal China besucht hatte, im Jahr der japanischen Invasion, als der größte Teil des Landes noch unter der Kontrolle des von General Chiang Kai Check geführten Kuomintang stand. 1945 fuhr Hinton zum zweiten Mal nach China, wo er bis 1953 lebte, davon sechs Monate in dem Dörfchen Long Bow, wo er Gelegenheit hatte, die Durchführung der Landreform aus nächster Nähe zu beobachten.

Wie man erfährt, wurden die Notizen des amerikanischen Autors beim Grenzübertritt in die USA beschlagnahmt und erst fünf Jahre später freigegeben. Das nach diesen Unterlagen geschriebene Buch wurde 1966 veröffentlicht. Es ist ein 700 Seiten starker Erfahrungsbericht, der ohne Schönfärberei so sachlich wie möglich die sozialistische Revolution an den Ereignissen in einem kleinen chinesischen Dorf, 400 Meilen südwestlich von Peking, schildert.

William Gaskill, der ehemalige künstlerische Leiter des Royal Court Theatre, und Max Stafford-Clark haben mit einer Gruppe von Schauspielern der Joint Stock Theatre Company in monatelangen Proben die wesentlichen Entwicklungsphasen auf dem Weg vom Feudalismus zum Sozialismus szenisch zu rekonstruieren versucht. David Hare schrieb den endgültigen Text des Stückes, das nach einer Reihe von Testaufführungen in der Provinz und einem Gastspiel im Londoner Instite for Contemporary Art (ICA) nun im Hampstead Theatre Club vorgestellt wird.

Wer Hintons berühmtes Buch nicht kannte, mochte Zweifel haben: Hatte man eine jener ebenso aggressiven wie langweiligen Agitprop-Shows zu erwarten, deren Botschaft immer nur die längst Bekehrten erreicht, ihre Vorurteile bestätigt, wie auch die ihrer Gegner? Oder ein neues fernöstliches Folklorespektakel?

‘Fanshen’ ist nichts dergleichen. “Ein Stück”, schrieb Michael Billington im ‘Guardian’, “ohne Präzedenz in der Geschichte des englischen Theaters; ein Stück, das im Detail vorführt, wie eine Revolution praktisch durchgeführt wird“.

‘Fanshen’ bedeutet Umkehr, Umwälzung, also Revolution. Das Stück beginnt mit der Vorstellung der Personen. Sie sind nicht mehr, als was sie besitzen. Eine Versammlung wird angekündigt. Die Japaner sind besiegt, die Abrechnung mit den Kollaborateuren schafft reinen Tisch. Bürgerkrieg mit den Kuomintang, der Anfang vom Ende des Feudalismus, Enteignung der Grundbesitzer. Aufklärung der Bauern über ihre gesellschaftliche Rolle. “Wer ist abhängig von wem?“ ist die entscheidende Frage – und die Antwort: ”Wir brauchen sie nicht, aber sie brauchen uns“. Denken lernen, Verantwortung übernehmen, Mitdenken für die Anderen. Der Kampf um die Gleichberechtigung der Frau, Kampf gegen Korruption, Funktionärsunwesen, Nepotismus. Öffentliche faire Kritik und Selbstkritik. Korrektur der Fehler der Vergangenheit. Klassifikationen werden revidiert, neue Klassifikationen entwickelt, Modifikationen, Definitionen – Wegmarken auf dem langen, beschwerlichen Marsch in eine bessere Zukunft.

David Hares Stück predigt nicht, es wirbt nicht; es stellt dar, kühl und sachlich, ironisch, ohne Verschleierung der Fehler und Irrwege. Es überzeugt durch die strikte Bemühung um Objektivität.

In Gaskills und Stafford-Clarks Inszenierung wird jeder theatralische Aufwand vermieden. Wenige ausgewählte Requisiten und Kostüme, ein kahles Podest, einige Hocker und ein paar Spruchbänder genügen. Eine Inszenierung, die nicht heroisiert oder idealisiert, sich nicht an Emotionen richtet, sondern ans Denken der Zuschauer; eine Aufführung, die durch ihre Menschlichkeit für die Sache – Fanshen – gewinnt.

 

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