“Das National Theatre sollte stets ein Stück von Shakespeare im Repertoire haben”, erklärte Peter Hall, als er vor drei Jahren die Leitung des Hauses übernahm. Zum ersten Mal in der 15-jährigen Geschichte des Nationaltheaters steht nun ‘Julius Cäsar’ auf dem Programm, ein Stück, das sich bis in die jüngste Vergangenheit großer Beliebtheit erfreute, doch seit die klassizistischen Gebärden, die pseudo-antiken Posen, die imperialen Grimassen suspekt geworden sind und das Thema Tyrannenmord uns nicht mehr unmittelbar betrifft, seltener auf die Bühne gelangt.
Die beiden großen Londoner Schauspieltheater, das National und die Royal Shakespeare Company, haben sich der Pflege des klassischen Erbes verschrieben. Doch der lebendigen Aufführung unserer klassischen Werken steht bekanntlich manches im Wege, hier wie anderenorts, durch jene Tradition der Aufführung, die Brecht seinerzeit die Tradition der Schädigung der klassischen Werke nannte: “Hauptsächlich verloren geht dabei deren ursprüngliche Frische, ihr damalig Überraschendes, Neues, Produktives. Die traditionelle Aufführungsart dient der Bequemlichkeit der Regisseure und Schauspieler und des Publikums zugleich“.
Sollte man ‘Julius Cäsar’ spielen, nur weil man die Titelrolle mit Sir John Gielgud besetzen kann? “Gielgud beschreitet die Bühne wie ein Kolossus”, schrieben die Londoner Zeitungen nach der Premiere im Olivier Theatre, “Gielgud ist der Juwel dieser Aufführung”, “er dominiert die Szene”. OK, Gielgud is great. Doch Cäsar stirbt bereits gegen Ende des ersten Teils, die Titelrolle kann das Stück nicht tragen. Es braucht einen Regisseur, der den antiken Stoff hereinholt in die Gegenwart, ihn einem Publikum vermittelt, das sich nicht mehr so einfach abspeisen läßt mit der Präsentation einer historischen Horrorgeschichte, sondern nach Gründen und Hintergründen fragt.
John Schlesingers Inszenierung aber ist von allen guten Geistern verlassen. Die Handlung wirkt flach und unbedeutend, willkürlich wie eine Folge fataler Ereignisse, die – weil die davon betroffenen Menschen so unglaubwürdig erscheinen – uns in gar keiner Weise berühren. Gähnende Langeweile breitet sich aus.
“Dies ist die Art von Shakespeare, die ich mag”, schrieb nach der kläglichen Aufführung allen Ernstes der Kritiker des ‘Daily Telegraph’ (was hat der Mann wohl gegen Shakespeare?). Das Stück entstand 1599, als man um die Nachfolge der gealterten, kinderlosen Elisabeth bangte. Die Ereignisse nach der Ermordung Caesars beschworen das Schreckgespenst eines möglichen Bürgerkrieges. Der Text hatte Bezug zur historischen Gegenwart.
Doch dieser ‘Cäsar’ hat uns fast nichts mehr zu sagen. Schlesingers Inszenierung hat keinerlei Konzeption oder Richtung. Die Schauspieler sehen so aus, als habe man sie sich selbst überlassen .”Warum wirkt das ganze so trostlos und nichtssagend?“, fragte sich der Kritiker des ‘Guardian’: “Vermutlich weil so wenig erkennbar ist von einer Tyrannei als Begründung für die Tat der Verschwörer ... So hat man den Eindruck, die ganze Verschwörung sei nichts als ein unbegründeter Mordanschlag auf den besten Sprecher englischer Verskunst”.
Der Kritiker der ‘Daily Mail’ ließ seine Leser wissen, er sei gekommen, Cäsar zu preisen, doch bleibe ihm nur, ihn zu begraben: “Dieser stumpfe, klobige Brutus von Brian Cox würde nicht einmal ein Augenlid heben, geschweige denn einen Dolch. Wenn dies ein Brutus sein soll mit inneren Qualen, dann kann es sich nur um Verdauungsstörungen handeln”. Über die Rolle des Cassius hieß es im ‘Guardian’: “Ronald Pickups Cassius wirkt wie ein bösartiges Frettchen, das mit seinen Zähnen in dünne Luft schnappt”. Und über Marc Anton las man in der ‘Financial Times’: “Mark McManus als Marc Anton kann nicht einmal Verse sprechen; in meinem ganzen Leben habe ich nichts Häßlicheres gehört”.
Schlesingers ‘Julius Cäsar’ ist ein neuer Meilenstein in der Tradition der Schädigung klassischer Werke. Ein trauriges Resultat.