die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1990
Text # 257
Autor William Shakespeare
Theater
Titel King Lear/Richard III
Ensemble/Spielort National Theatre/London
Inszenierung/Regie Deborah Warner/Richard Eyre
Hauptdarsteller Ian McKellen/Brian Cox/David Bradley
Neuinszenierung
Sendeinfo 1990.07.25/SWF Kultur aktuell/DLF/RIAS/RB/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

Unter den klassischen Darstellern der mittleren Generation in Großbritannien ist Ian McKellen der einzige, der Laurence Olivier, dem größten der Großen dieses Jahrhunderts, vielleicht das Wasser reichen, der einzige weit und breit, der eines Tages seine Nachfolge antreten könnte. McKellen als Richard III (mit Brian Cox in der Rolle des Buckingham) und Brian Cox als ‘Lear’ (mit Ian McKellen in der Rolle des Kent), zwei neue Inszenierungen des Nationaltheaters, welches damit im Herbst zur größten Gastspielreise seiner Geschichte rund um die Erde aufbrechen wird – das ließ Außergewöhnliches erwarten.

Die Rgisseurin Deborah Warner läßt ‘Lear’ auf leicht geschrägter, dekorationsloser Bühne spielen, die nach drei Seiten durch schwere, lappenartige Vorhänge begrenzt ist. Lears erster Auftritt ist zur Auffahrt geworden: umgeben von karnevalistischem Trubel, wird er von seinen Töchtern und deren Ehemännern auf einem Rollstuhl hereingewirbelt und scheint an dem übermütigen Treiben seinen kindischen Spaß zu haben. Lear ist ein Greis mit grauem Vollbart und langen, zotteligen Haaren; eine breite, massige Gestalt mit leicht vornüber gebeugten Schultern und schleppendem Gang. Die Haltung der Hände läßt Gicht vermuten. Seine kräftige, normalerweise tiefe Stimme wird schrill und überschlägt sich, wenn er sich erregt.

Der Jähzorn gegen die Lieblingstochter Cordelia, seine Starrköpfigkeit und das Maß an Selbsttäuschung sind unverkennbare Zeichen seiner Senilität. Die Sturmszene, durch Lichtblitze und Trommeldonner angedeutet, bringt den Alten offenbar gänzlich um den Verstand. Vor der Wiederbegegnung mit Gloster in der Nähe von Dover tritt er barfuß mit weißem Büßerhemd und kurzer Hose auf, wie die wahnsinnige Ophelia mit Blumen und grünen Kräutern geschmückt. Der weitere Gang der Ereignisse und ihre Darstellung wirken konventionell theatralisch. Was uns dabei vor allem entgeht, ist der Gedanke, daß der am Anfang verblendete König einen langen, beschwerlichen Weg zurücklegen muß, bis ihm durch Leiden die Augen geöffnet werden.

Alles in allem ist der neue ‘Lear’ (erst der zweite in der Geschichte des Nationaltheaters), trotz Ian McKellens redlichem Kent, David Bradleys hervorragendem Narren und ein paar hübschen Regieeinfällen, eigentlich keine Inszenierung, die man auch in Japan, in Hamburg, Mailand, Madrid oder Dublin unbedingt gesehen haben müßte.

Dasselbe gilt, wenn auch aus anderen Gründen, für die neue Inszenierung von ‘Richard III’, die unter dem Handicap, daß sie in modernen Kostümen gespielt wird, in Fräcken, Gehröcken, Abendkleidern und schnittigen Uniformen der Vierzigerjahre, zweifellos mehr zu leiden hat als der Titelheld unter seinen (zunächst kaum wahrnehmbaren) körperlichen Gebrechen. Ian McKellen tritt in schmucker Offiziersuniform vor uns hin, ein scheinbar gut gewachsenes Mannsbild, das sich einen Krüppel schimpft. Erst später merken wir, daß er die linke Hand, die in der Manteltasche steckt, nicht frei bewegen kann, sich über der linken Schulter ein kleiner Buckel wölbt, und wenn er die Offiziersmütze abnimmt, wirkt die linke Hälfte des Kopfes, aus der Ferne kaum zu erkennen, leicht deformiert.

Daß der Szene mit Anna, deren Ehemann und Schwiegervater derselbe Richard ermordete, der nun um die Hand der Witwe wirbt, jede erotische Spannung fehlt, geht nicht nur auf das Konto einer sehr schwachen Schauspielerin, sondern muß auch dem Regisseur (und Intendanten des Nationaltheaters) Richard Eyre vorgehalten werden, dessen gewaltsame und (weil der Text es gar nicht anders zuläßt) inkonsequente Modernisierung das Stück derart unterkühlt, daß selbst dem großartigen Ian McKellen von den dramatischen Möglichkeiten der herrlichen Rolle kaum noch etwas übrig bleibt.

Nach der Verhaftung von Hastings, wenn Richard die Geschicke zu kontrollieren scheint, tritt er nur noch in schwarzer SS-Uniform mit Breeches, Schaftstiefeln und roter Armbinde auf. Auch seine Untergebenen passen sich der neuen Kleiderordnung an. Das Staccato der Reden, die bellende Stimme, die cholerischen Ausbrüche ahmen ein allzu bekanntes historisches Vorbild nach. Wenn Buckingham den scheinbar Widerstrebenden dazu überredet hat, sich krönen zu lassen, reißt Richard triumphierend den ausgestreckten rechten Arm in die Höhe. Für die in blutrot getauchte Krönungsszene senkt sich eines der grauenhaft kitschigen Heldengemälde der Blut-und-Boden-Ära herab: ein maskuliner nackter Jüngling mit weißem Pferd vor einer Marschkolonne schwarzgekleideter Flaggenträger.

Der Vergleich mit dem aufhaltsamen Aufstieg des Adolf Hitler ist längst nicht mehr originell und viel zu dick aufgetragen. Die Geschichte wirkt flach und prosaisch. Shakespeares altertümliche Sprache aus dem Mund moderner Militärs – ein Anachronismus, der nur weh tut und nichts in Bewegung setzt. Wenn man sich schließlich für die Schlacht gegen Richmond wappnet – die nach Aussehen und Betragen der Protagonisten hier logischerweise mit Panzern und Kanonen statt mit Schwertern und auf Pferden ausgetragen werden müßte – und sich dafür blecherne Rüstungen über die schwarzen SS-Uniformen schnallt, dann wird das alte Schauspiel vom Aufstieg und Fall des grausamen dritten Richard fast zu einem Stück des absurden Theaters.

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