die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1971
Text # 17
Autor Edward Bond
Theater
Titel Lear
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie William Gaskill/Bb.: John Napier/K: Deirdre Clancy
Uraufführung
Sendeinfo 1971.09.30/SWF/Kultur aktuell

‘Lear’ von Edward Bond im Royal Court Theatre London

‘Lear’, das neue Stück von Edward Bond, bestätigt das Urteil derer, die den Autor für Englands größten lebenden Dramatiker halten, und es verwirrt die Gemüter der anderen, die ihn noch immer als Sadisten sehen, der sensationshungrig mit Entsetzen Spott treibt. Edward Bonds ‘Lear’ ist keine Neufassung des shakespearschen Dramas; es ist der ungeheuerliche Versuch, eine moderne Tragödie antiker Größe zu schreiben. Zwar sind die Zentralfigur und wesentliche Züge der Handlung der alten ‘Lear’-Legende entlehnt. Es ist die Geschichte eines alternden Königs, der von seinen Töchtern entthront wird und durch großes Elend geht, bis er am Ende Erlösung findet. Im übrigen aber ist dieser ‘Lear’ ein echter Bond.

Bonds Lear ist ein Tyrann, der mit unmenschlicher Strenge ein kleines Land regiert, das er gegen Feinde von außen mit einer gewaltigen Grenzmauer umgeben läßt, gebaut mit Blut und Schweiß seiner versklavten Untertanen. Seine beiden Töchter rebellieren dagegen, paktieren mit dem Feind, entfesseln Krieg, entmachten den König und regieren nun selbst mit fürchterlicher Grausamkeit das Land. Gegen diese neue Gewaltherrschaft revoltiert das Volk; unter der Führung der Bäuerin Cordelia siegt die Armee der Bauern und Arbeiter. Doch auch diese Regierung errichtet ein Terrorregime, Freiheit wird nicht zur Realität, die Revolution frißt ihre Kinder. Lear, dessen Geist sich durch das erlittene Elend verwirrt hat, wird eingekerkert, die Töchter in seiner Gegenwart bestialisch ermordet, er selbst zum Objekt medizinischer Versuche entwürdigt; man reißt ihm die Augen aus, setzt ihn dann frei. Als menschliches Wrack, geistig und körperlich zerstört, irrt er hilflos in den Wäldern umher, bis arme Leute sich seiner erbarmen. Bei ihnen findet er Frieden. Wie der geblendete Ödipus, wird Lear durch die Höllenqualen, die er ertragen mußte, geläutert und weise im Alter, vom Volk wie ein Heiliger verehrt. In einer letzten Anstrengung versucht er, Cordelia zu bewegen, die Mauer, die er seinerzeit gebaut und die neue Regierung verstärkt hat, abzureißen. Als das mißlingt, legt er selbst Hand an. Die Wachen entdecken ihn und schießen ihn nieder.

Bonds ‘Lear’ ist ein grauenhaftes Stück, ein Stück über die Greuel in der Welt, schockierend und alarmierend, vor allem weil es keinen Ausweg zeigt aus der Hölle, in der wir leben. Vor der Härte der unbeschönigten Darstellung dieser Wirklichkeit, die mit atemberaubender Prägnanz wie eine perfekt funktionierende Massenexekution vorgeführt wird, wirkt am Schluß die verzweifelte Bemühung Lears, zu retten was noch zu retten ist, schon wie Hoffnung. Die unbarmherzig realistisch dargestellten Greuel (vor denen ein großer Teil des Premierenpublikums die Flucht ergriff) erscheinen durch die versöhnliche Geste wieder in etwas sanfterem Licht.

Edward Bond, der aus Mitleid gefühllos kalte ‘agent provocateur’, gibt sich am Ende unverhohlen menschlich: als einer, der hoffen muß, um an der Welt nicht den Verstand zu verlieren.

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