Wer nur den Titel des japanischen Schauspiels kennt, das vor gut hundert Jahren in Osaka im klassischen Kabuki-Stil zum ersten Mal vorgestellt wurde – ‘Die Welt des Geldes zur Zeit der Kirschblüte’ – wird nicht auf den Gedanken kommen, daß es sich dabei um eine japanische Fassung eines bekannten Shakespeare-Stückes handelt, des ‘Kaufmann von Venedig’. Für die Japaner war es die erste, wenigstens indirekte Begegnung mit dem englischen Bühnendichter, der erst im 20. Jahrhundert durch die Übersetzungen von Shoyu Tsubouchi für das japanische Theater wirklich entdeckt wurde.
Heute ist Shakespeare auch in Japan einer der meistgespielten Dramatiker. Seine Stücke sind in den verschiedensten Stilarten, als Noh-, Kabuki-, Kyogen- und Bunraki-Spiele, in klassischen und modernen Fassungen vielfach aufgeführt und verfilmt worden. Der berühmte japanische Architekt Arata Isozaki wurde beauftragt, nach dem Vorbild des legendären Shakespeare-Theaters ‘The Globe’ ein neues Schauspielhaus zu entwerfen. Es wurde in Tokio erbaut, mit der modernsten Bühnentechnik ausgerüstet und spezialisiert sich auf Shakespeare.
Es liegt nahe, daß man in England auf die Gastspiele des japanischen Globe-Theaters im Rahmen des britischen Japanfestivals besonders gespannt war. Nach der bereits im September im Londoner Mermaid Theatre vorgestellten Inszenierung eines Kabuki-‘Hamlet’ machte das Globe-Theater nun auch mit seiner modernen Neufassung des ‘King Lear’ bekannt, die der Komponist und Regisseur J.A. Seazer mit dem Ensemble Banyo Inryoku entwickelt hat.
Die 1983, im Todesjahr des großen japanischen Theater- und Filmregisseurs Shuji Terayama von dessen langjährigem Mitarbeiter J.A. Seazer gegründete Truppe Banyo Inryoko ist Terayamas Idee eines totalen Theaters verpflichtet, einer Form von Theater, die eine Verbindung zwischen klassischen japanischen und westlichen Traditionen sucht und die Trennung zwischen den Gattungen Schauspiel, Tanz, Pantomime, Film und bildende Kunst aufheben möchte.
Der Versuch, so heterogene Ausdrucksformen zu vereinen, führte in der Vergangenheit zur Entstehung faszinierend mysteriöser szenischer Gebilde; so bei Terayamas berühmter Inszenierung ‘Dienstanweisungen’ oder Seazers eigener Inszenierung mit dem Titel ‘SUNA’, mit der die Truppe Banyo Inryoku vor einigen Jahren einen der ersten Preise des Edinburger Festivals gewann.
Die Ausstattung der in diesen Tagen im Mermaid Theatre vorgestellten ‘Lear’-Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme und die phantastisch skurrilen, meistens funktionslosen Requisiten stammen von einem anderen langjährigen Mitarbeiter Terayamas, dem Bühnenbildner Kotake. Ein aus Stangen gebautes, hohes, torbogenartiges, über Treppen, Leitern und Stege begehbares Gerüst beherrscht die Szene. Durch die riesigen Bruchstücke von Stuckatur, die daran hängen, wirkt es wie ein halb eingestürzter Bühnenrahmen.
Die Aufführung beginnt mit einer sogenannten ‘Schattenreinigungszeremonie’. Wem Shakespeares Tragödie vertraut ist, der kann auch ohne Kenntnis des Japanischen der auf die wichtigsten Vorgänge verknappten Handlung mühelos folgen. Doch solche Verkürzung und Vereinfachung der Geschichte bringt statt Verdichtung nur Vergröberung. Die psychologische Motivation geht verloren und wird auf die primitivsten Impulse reduziert. Vielleicht weil die Zusammenhänge selbst in der um die subtileren Reaktionen verkürzten japanischen Fassung ein Publikum, das vor allem das Spektakuläre sucht, überfordern (und auf ein solches Publikum scheint man es hier abgesehen zu haben), hat der Regisseur es für nötig gehalten, dem Stück eine fast durchgehende Musik- und Geräuschkulisse zu unterlegen, die an jedem Szenenende, je nach der gewünschten Wirkung, zu ekstatischen Chören, melodramatischen Opernarien, wütenden Trommelsoli oder durchdringend lauter Rock-Musik anschwillt, woraufhin stets eine Gruppe schwarz gewandeter Gestalten wie ein Schwarm böser Geister durch den Zuschauerraum auf die Bühne flattert, in chorischen Bewegungen hin- und herschwirrt und sich danach wieder verkriecht, bevor die nächste Szene beginnt.
Wenn Goneril und Regan den schönen Bösewicht Edmund verführen, tritt an die Stelle des Dialogs ein hinreißend lasziver Tanz. Die Zweikämpfe werden zu virtuos ausgeführten akrobatischen Einlagen. Für die große Sturmszene, in der Lear mit Blitz, Donner und Regen in ohnmächtigem Zorn um die Wette heult und dabei den Verstand verliert, zieht die japanische Bühnentechnik alle elektronischen Register. Blutrot geht die Scheibe des Mondes auf und unter. Der böse Edmund stirbt nach dramatischem Kampf mit seinem Halbbruder Edgar unter lang anhaltendem Trommelwirbel einen langen dramatischen Theatertod.
Wenn Lear mit der toten Cordelia im Arm erscheint, wird die irrsinnig laute Disco-Musik zum elektronisch erzeugten Orkan, der selbst den Beifall derer, die an dem verrauchten, grellen Spektakel Gefallen fanden, noch überdröhnte, als die übrigen, denen Hören und Sehen längst vergangen war, bereits den Ausgang suchten.
Einer der Londoner Kritiker, den der japanische Molotowcocktail sonst eher beeindruckt zu haben schien, ohne daß er genauer hätte sagen können warum, schrieb nach der Aufführung: Wie viel hier von Shakespeares ‘Lear’ übrig bleibe, wisse er allerdings nicht. – Ich würde meinen, eigentlich keine ganz unwichtige Frage.