die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1980
Text # 322
Autor Mike Bradwell & Ensemble
Theater
Titel Ooh La La!
Ensemble/Spielort Hull Truck Theatre Company/Bush Theatre /London
Inszenierung/Regie Mike Bardwell
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1980.01.11/SWF Kultr aktuell/RB/WDR/SRG Basel 1980.01.29/Darmstädter Echo

“Eine der besten und unterhaltsamsten britischen Theatergruppen des letzten Jahrzehnts“; “lebendig und stimulierend”; “einfach großartig”; “im Hinblick auf Wahrhaftigkeit und Würde läßt die Arbeit dieser Gruppe nahezu alle Veranstaltungen des Londoner Westends als Tand erscheinen”.

Die mit so einhelliger Zustimmung der englischen Kritikern gefeierte Truppe ‘Hull Truck Theatre Company’ hat sich durch die Qualität und Dichte ihre Inszenierungen einen festen Platz unter den besten der freien Bühnenensembles des Landes gesichert. Die 1971 gegründete Gruppe hat ihren Standort in der nordenglischen Hafen- und Universitätsstadt Hull, doch selbst nach neun Jahren erfolgreicher Arbeit noch immer kein eigenes Theater. Ihre Inszenierungen werden in kleinen Büroräumen einstudiert und wandern dann, nach einigen Probevorstellungen, über die Lande. Regelmäßig ein- bis zweimal im Jahr erscheint Hull Truck auch in London, wo das Bush Theatre die Gruppe willkommen heißt und ein aufgeschlossenes Publikum aus allen Teilen der Stadt herbeieilt, um zu sehen, was Hull Truck Neues zu bieten hat.

Was sie von anderen Gruppen ähnlicher Größenordnung unterscheidet, ist nicht nur das verblüffende schauspielerische Können, die Subtilität der Darstellung als solche, sondern vor allem die Art, wie hier die meisten Stücke aus der Improvisation entwickelt werden. Mike Bradwell, der Leiter und Gründer der Truppe, beginnt die Arbeit an einem neuen Stück normalerweise mit einer Handvoll relativ vager Ideen über das Verhältnis der in diesem Stadium noch kaum bekannten Charaktere. Dann werden die für die Rollen vorgesehenen Schauspieler in Klausur geschickt, um unabhängig voneinander die Biographie ihrer Figuren zu entwickeln, wobei sich jeder der Darsteller gegenüber den in ähnlicher Isolation arbeitenden Kollegen zu striktem Stillschweigen verpflichten muß über alle Vorgänge in dieser Phase. Der Charakter der Rollen wird von jedem der Schauspieler selbstständig bis in Einzelheiten ihrer Vorgeschichte herausgebildet und einige Wochen lang in ihrem Verhalten im realen Alltag eingeübt und studiert.

Das nach dieser Zeit von den Schauspielern produzierte Material zur Person wird dem Autor/Regisseur vorgeführt, der jetzt die Möglichkeit hat, durch Auswahl des im Sinne des geplanten Stückes Verwertbaren und Konzentration auf gewisse Aspekte der ihm nun näher bekannten Figuren zu koordinieren und einen szenischen Ablauf festzulegen. Erst dann lernen die Darsteller die Charaktere ihrer Mitspieler kennen.

Man beginnt, das Stück zu bauen. Durch Improvisation entstehen Dialoge, die auf Tonband aufgezeichnet, verdichtet und ausformuliert werden. Lieder und musikalische Einlagen verbinden die kaleidoskopisch gefächerten Szenen. Die nach diesem Schema im Laufe von elf Wochen entwickelten Resultate werden in einer Reihe von Vorstellungen getestet und gehen dann auf Tournee.

Das soeben im Londoner Bush Theatre erstaufgeführte neue Stück mit dem etwas sonderbaren Titel ‘Ooh La La!’ ist eine Studie über akademische Gelehrsamkeit im Verhältnis zur Realität emotionaler Bedürfnisse. Es geht um Liebe zwischen Vater und Tochter, zwischen Eheleuten und zwischen Lektoren und Studenten sowie um die sich hier ergebenden Querverbindungen. Die Tendenz läuft darauf hinaus, daß akademische Bildung und Unterweisung, insbesondere im Hochschulbereich, zu einer Flucht aus der Wirklichkeit verführen kann, zur Verhärtung gegenüber den Bedürfnissen der nächsten Umwelt, so daß echte persönliche Beziehungen zwischen Menschen kaum mehr möglich sind.

Was bei der mühsamen und zeitraubenden Arbeitsmethode der Hull Truck Theatre Company allemal gewonnen wird, ist die bemerkenswerte Lebendigkeit der von den Darstellern als Mitautoren geschaffenen Charaktere, Glaubwürdigkeit, Dynamik und eine vergleichsweise größere Flexibilität, die auch bei der Vorstellung des fertigen Stückes noch einen gewissen Spielraum für Improvisation erhält. Das Risiko, daß die zunächst unabhängig voneinander entwickelten Elemente fragmentarisch erscheinen können, wird mehr als ausgeglichen durch die ungeheure Materialfülle (nur etwa ein Zehntel des zum Charakter der Figuren Ermittelten bleibt erhalten) sowie durch die bei der späten Konfrontation der Rollen gewonnene natürliche Spannung und den Zugewinn an intellektuellen Einsichten und kreativen Impulsen bei der Zusammenarbeit eines Autorenteams. Das Ergebnis sind seelische Studien, die zumeist überaus vergnüglich und geistreich dargeboten werden und ihr Publikum unmittelbar ansprechen, weil es um Darstellung realer Erfahrungen und Beobachtungen geht, nicht um künstliche literarisch-theatralische Übungen.

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