die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1984
Text # 195
Autor Andrew Lloyd Webber/Richard Stilgoe
Musical
Titel Starlight Express
Ensemble/Spielort Apollo Victoria Theatre/London
Inszenierung/Regie Trevor Nunn/Bb. John Napier
Uraufführung
Sendeinfo 1984.03.30/SWF Kultur aktuell/RB/DLF/SR/DW 1984.04.04/SFB/Nachdruck: Darmstädter Echo

Andrew Lloyd Webber, im Alter von 36 Jahren der erfolgreichste und mit monatlichen Einkünften von schätzungsweise 5 Millionen Mark, ist ein Mann der Rekorde und Superlative mit einem fast untrüglichen Gespür für das, was beim großen Publikum ankommt. Seine Stücke ‘Joseph And The Amazing Technicolor Dreamcoat’, ‘Jesus Christ Superstar’ und ‘Evita’ wurden und werden in aller Welt gespielt; ‘Cats’, in London und in New York schon über zwei Jahre auf dem Programm, ist noch immer für Wochen im voraus ausverkauft; seit 1982 laufen in beiden Städten nebeneinander je drei verschiedene Lloyd-Webber-Musicals.

In London hat sich inzwischen ein viertes hinzugesellt, das die Rekorde der früheren noch übertreffen könnte, vor allem weil es in seiner szenischen Realisierung kaum übertragbar ist und sich wahrscheinlich schon deshalb besonders lange halten wird, eine Aufführung, die (auch dies ein neuer Rekord) nicht weniger als 2 Millionen Pfund (etwa 8 Millionen Mark) kostete; was bedeutet, daß sie mindestens drei Jahre laufen muß, um die reinen Kosten einzuspielen. Fast Dreiviertel der Summe (£1,4 Mill.) ging allein auf den Umbau des Theaters, des Apollo Victoria, ein neben dem Londoner Hauptbahnhof Victoria Station gelegener ehemaliger Filmpalast, den Regisseur Trevor Nunn, Direktor der Royal Shakespeare Company, von seinem Bühnenbildner John Napier in eine mehrstöckig angelegte Rollschuharena verwandeln ließ.

‘Starlight Express’ ist eine Liebeserklärung an die Eisenbahn, die Personen der Handlung sind Lokomotiven und deren Waggons – Schlafwagen zweiter und dritter Klasse, Speisewagen, Raucherwagen, Güterwagen. Der eigentlich nahe liegende Gedanke, die dramatis personae einfach auf Rollschuhe zu stellen und so agieren zu lassen, wurde zum ebenso reizvollen wie schwierigen technischen Problemen, das John Napier schließlich auf wahrhaft grandiose Weise löste: durch den Bau von Laufbahnen, die quer durchs Publikum, um die Zuschauerreihen herum und bis hinauf zur Balustrade der Galerie mit atemberaubender Geschwindigkeit befahren werden, wobei die eigentliche Bühne durch eine etwa sieben Meter lange Stahlträgerbrücke, die sich vor- und zurückbewegen, heben, senken und kippen läßt, auf verschiedener Höhe überquert werden kann. Es ist wie die Verwirklichung eines uralten Kindertraums: einmal in seinem Leben eine riesige Märklin-Anlage zu besitzen und – wie der unsichtbare Kontrolleur, der hier mit majestätischer Stimme die Einsatzbefehle erteilt – alle Züge um die Wette sausen zu lassen.

Im Mittelpunkt der Handlung (sofern von Handlung die Rede sein darf) steht denn auch der in drei Vorläufen und einem Endlauf entschiedene Wettkampf der (von Männern dargestellten ) Lokomotiven, die jeweils einen Wagen als Partner mitführen müssen. Es geht um die Ermittlung der schnellsten und zuverlässigsten Maschine, ein Kampf zwischen Dampf-, Diesel- und Elektro-Lok, den erwartungsgemäß ‘the underdog’, die von allen mitleidig belächelte und darum vom Publikum besonders geliebte alte Dampflokomotive namens Rusty für sich entscheidet. Rusty (Ray Shell) gewinnt damit auch das Herz des schönen Salonwagens Pearl (Stephanie Lawrence), die Partnerin, mit der er für immer verbunden bleiben will.

Die Geschichte sei geistig so anspruchslos, “daß selbst die Phantasie eines zurückgebliebenen Achtjährigen ihr ohne Mühe folgen könnte”, meinte einer der Kritiker bissig. Wer anspruchsvolle geistige Anregung suche, sei hier fehl am Platze, konterte Trevor Nunn; es gehe um Spaß und Unterhaltung, Vergnügen der Augen und Ohren, die uns, wie man zugeben muß, in dieser neuen Form von totalem Theater reichlich geboten werden. ‘Starlight Express’ mag musikalisch im Vergleich zu Lloyd Webbers früheren Werken nicht sehr viel Originelles bringen, doch das Stück enthält ein halbes Dutzend Songs, die in den nächsten Monaten auf die vorderen Plätze der Schlagerparade gelangen könnten, wobei einige der heute gängigen popmusikalischen Stile in witzigen Parodien wiederkehren. Auch die meisten der Texte von Richard Stilgoe, dem romantisch-sentimentale Töne nicht liegen, gefallen durch sprachlichen Witz und clevere Wortspiele.

Über den Nimbus der Dampflokomotive sagt Richard Stilgoe: “Jeder geht wohl davon aus, daß Dampfmaschinenzüge anders sind als die von Diesel- oder Elektro-Loks gezogenen: sie haben Herz, sie haben Seele – weil sie an den Starlight Express glauben, den perfekten Zug, den man nachts mitunter hören kann, doch niemals sieht – oder höchstens in sehr großer Entfernung. Der Starlight Express fährt nicht mehr. Nur Dampflokomotivenzüge glauben noch an ihn. Deshalb haben sie etwas, das den anderen fehlt. Darum geht es in dieser Show”.

Nach dem tieferen Sinn solcher Sprüche darf man nicht fragen bei einem Stück, das – wie einer der Londoner Kritiker schrieb – “dem Kraftstoff Dampf ein Denkmal setzt unter exzessiver Verwendung des Kraftstoffs Elektrizität”. Oder mit den Worten eines anderen: “Ein Spielbergscher Einsatz technischer Effekte zum Lobpreis des präelektrischen Himmelreichs ... ein computerisiertes Märchen, ein ‘Kampf der Sterne’ fürs Theater”. Über den künstlerischen Wert oder Unwert mochte man streiten, doch alle schienen sich einig: ‘Starlight Express’ ist nicht nur die teuerste, sondern auch die aufwendigste, trickreichste und spektakulärste Musical-Show, die es je gab – ein neuer Andrew-Lloyd-Webber-Hit.

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