Elf Schauspieltruppen aus zehn Ländern und vier Kontinenten finden sich in diesen Tagen in der britischen Hauptstadt zum dritten Londoner Internationalen Festival des Theaters ein. Seit dem Ende der berühmten, von Peter Daubeny geleiteten letzten Welttheatersaison vor zehn Jahren, jenem einzigartigen Theaterfestival, das über einen Zeitraum von zwölf Jahren die bedeutendsten Schauspielbühnen der Welt nach London brachte und dadurch die künstlerische Arbeit des britischen Theaters nachhaltig beeinflußte, hat sich der sogenannte Kulturaustausch zwischen den Ländern im Bereich der darstellenden Künste immer mehr zu einem Einbahnstraßenverkehr entwickelt.
Während die Royal Shakespeare Company, das Royal Court Theatre und eine Reihe kleinerer britischer Theatergruppen mit einiger Regelmäßigkeit im Ausland gastieren und praktisch alle erfolgreichen britischen Bühnenstücke in kürzester Zeit in andere Sprachen übersetzt und im Ausland aufgeführt werden, ist die Zahl der in England gastierenden ausländischen Theatergruppen und der ins Englische übertragenen Stücke ausländischer Autoren geradezu lächerlich gering.
Dem British Council, das den internationalen Kulturaustausch fördern soll, stehen für den Export britischer Inszenierungen zwei Millionen Pfund zur Verfügung, für den Import ausländischer Produktionen jedoch nur 100.000 Pfund, also 5% dieser Summe. Die sprichwörtliche Insularität der Briten, Ausdruck grotesker Selbstüberschätzung und eines daraus hervorgegangenen, auf die Dauer verhängnisvollen Desinteresses an allem Fremdländischen, hat – wie besorgte Stimmen meinen – inzwischen bereits zu einer kulturellen Kluft geführt, die Großbritannien von der übrigen Welt trennt.
Vor diesem Hintergrund erhält das London International Festival of Theatre LIFT seine besondere Bedeutung. Rose Fenton und Lucy Neal, zwei junge Damen, die vor vier Jahren mit einem Minibudget aus erbettelten öffentlichen und privaten Geldern in Höhe von 120.000 Pfund das erste Festival dieser Art zusammenbrachten und wegen seines großen Erfolges beschlossen, es alle zwei Jahre zu wiederholen, fanden in Dame Peggy Ashcroft, Lady Daubeny, Sir Alec Guinness, George Melly und Peter Ustinov prominente und einflußreiche Förderer ihrer Sache.
Im Unterschied zur ehemaligen Welttheatersaison Peter Daubenys, der es verstanden hatte, die größten und bekanntesten der etablierten Schauspieltheater aus aller Welt zu Gastpielbesuchen in London zu überreden, hatten die beiden Direktoren des LIFT-Festivals Rose Fenton und Lucy Neal den Ehrgeiz, die besten und interessantesten der kleineren Theatergruppen aus den verschiedenen Ländern nach London zu bringen, also eine Art Alternativ-Festival durchzuführen – alternativ auch durch die bewußte Auswahl von Inszenierungen, bei denen im Unterschied zur britischen Theatertradition, die im Grunde nur eine Tradition des Sprechtheaters ist, die visuellen Ausdrucksmittel dominieren.
Was die Theatergruppen aus Brasilien, Japan, Holland, Polen, Sierra Leone, Peru, Indien, Jamaika, Italien, den USA und anderen Ländern während der beiden ersten LIFT-Festivals 1981 und 1983 in London vorstellten, beschrieb die britische Theaterzeitschrift ‘Plays and Players’ als “faszinierende Beispiele hierzulande selten gesehener theatralischer Formen und Stilarten“.
Das vom 15. Juli Juli bis 4. August 1985 stattfindende dritte LIFT-Festival bietet das bisher anspruchsvollste Programm. Acht Londoner Theater (darunter das Royal Court, das Lyric, das Shaw, das Sadler’s Wells und die Riverside Studios) werden den gastierenden Truppen in diesen Wochen ihre Bühnen zur Verfügung stellen. Etwa fünfzig Vorstellungen finden im Freien statt. Vier der Gastspieltheater veranstalten sogenannte Workshops mit praktischen Demonstrationen ihrer Arbeitsmethoden. Daneben laufen Vorträge und öffentliche Diskussionen mit Autoren, Regisseuren und Schauspielern, sowie zahlreiche Kabarettveranstaltungen in dem sogenannten Spiegelzelt, einem aus Holland importierten ehemaligen Tanzsalon aus den Zwanziger Jahren.
Zu den interessantesten Ereignissen dieser Wochen gehören das Gastspiel des Posener Teatr Nowy mit Janusz Wisniewskis surrealer Vision vom Ende der Welt, zwei ebenso spektakuläre Inszenierungen der katalanischen Volkstheatertruppe Els Comediants aus Barcelona, die Aufführungen der Vierten Pekingoper, des römischen Ensembles La Gaia Scienza, des südafrikanischen Bahamutsi-Theaters und des Mladinsko-Theaters aus Ljubljana.
LIFT ’85 kostet bescheidene 270.000 Pfund. Ein gutes Drittel dieses Geldes kommt vom Greater London Council, der demokratisch gewählten Londoner Stadtregierung, die auf Beschluß des britischen Parlamentes im nächsten Jahr aufgelöst werden soll. Wenn der für die Künste zuständige britische Minister Lord Gowrie die nach der Auflösung des GLC fehlenden 100.000 Pfund nicht aus staatlichen Mitteln aufbringen kann, wird das dritte Londoner International Festival of Theatre trotz seiner Bedeutung für das Theaterleben in Großbritannien vermutlich auch das letzte gewesen sein.