Wichtigstes Londoner Theaterereignis in den ersten Wochen des für englische Verhältnisse ungewöhnlich heißen Juli war die Rückkehr der Pip Simmons Theatre Group, eine der besten, künstlerisch produktivsten und einflußreichsten Gruppen der englischen Theateravantgarde. Ihre in Rotterdam entwickelte neue Inszenierung ‘An die Musik’ (so auch der Titel des englischen Originals) ist ein Requiem für die in deutschen Konzentrationslagern ermordeten Juden, ein unendlich böses, entsetzliches Schauspiel von Greueln, die Menschen an Menschen begehen . ’An die Musik’ zeigt die sukzessive Animalisierung von Menschen in der Rolle von Opfern und Henkern. Der Titel wurde dem gleichnamigen Musikstück von Schubert entlehnt, das es im zweiten Teil grausam ironisch parodiert. Schrecken und Angst, die sich mitteilen, überholen die Erinnerung ans Dritte Reich; sie erscheinen als unmittelbare Bedrohung, als Signale der Gegenwart, in der die Greuel von Menschen an Menschen nicht aufgehört haben. – “Es ist kein Stück über die Deutschen“, sagte Pip Simmons nach der Vorstellung. Es ist ein Stück über unsere Zeit.
Die Inszenierung, die durch ihren grausamen ritualisierten Realismus nicht nur bei vielen Zuschauern, sondern auch bei einigen Kritikern die Sicherungen einer im Theater sonst nur ästhetisch reagierenden Betrachtungsweise durchschlug und erstaunliche Animositäten hervorrief, ist wegen ihrer Wirkung ein bedeutendes Beispiel dafür, was politisches Theater im besten Sinne noch immer zu leisten vermag.
Explosiv, wenngleich auf ganz andere Weise, wirkte im Hampstead Theatre Club auch die britische Erstaufführung des Wolfgang-Bauer-Stückes ‘Ghosts’ (Geister), das dem englischen Publikum in der ausgezeichneten sprachlichen Neufassung von Mike Stott zugemutet wurde. Stott gelang es, das Stück von dem provinziellen Lokalkolorit zu befreien, der es den englischen Zuschauern leicht gemacht hätte, sich nicht unmittelbar angesprochen zu fühlen.
Das Bush Theatre, ein kleines Gasthaustheater im Westen der Stadt, das in den letzten Jahren besonderes Gespür für neue dramatische Talente gezeigt hat, brachte die Uraufführung des Stückes ‘Nobody Knew They Were There’ (Keiner wußte, daß es sie noch gab) von dem jungen Autor Terence Greer, dessen satirische Moritat über den Massenmörder Jack the Ripper, geschrieben für das Half Moon Theatre, wie man erfuhr, in Kürze auch auf deutschen Bühnen vorgestellt werden wird.
Das neue Stück beschreibt eine Situation, einen beinahe statischen Zustand, alte Menschen an der Schwelle des Todes. Eine sehr alltägliche Situation: Drei greise Frauen in einem Krankenhauszimmer sprechen vor sich hin und miteinander über die Vergangenheit, während sie auf die Besuchszeit warten, in der, wie man bald weiß, niemand kommen wird. Drei alte Leute, die man schon abgeschrieben, vergessen hat, wie es im Titel heißt: keiner wußte mehr, daß es sie noch gab.
Sie sprechen über ihr Leben, über ihr Elternhaus, über Ehemänner und Liebhaber, über ihre Kinder oder den Grund ihrer Kinderlosigkeit, über ihre körperlichen Vorzüge und Gebrechen. Sie streiten, weinen, lachen, schreien, beten und warten auf ihr Ende.
Warum sind sie in diesem Trakt? Warum kümmert sich keiner um sie? Hat man sie aufgegeben? Hoffnungslose Fragen, weil keiner mehr antworten wird. Ihre Gedanken kreisen um Gewesenes. In den endlosen Augenblicken vor dem Tod ist Leben verkürzt zur Erinnerung an Gelebtes. Die Gespräche treten auf der Stelle, sind zusammenhanglos, abgebrochene Monologe ohne Kommunikation.
Die Frage, wer an welchem Wochentag den Klosettstuhl, der in der Mitte des Zimmers steht, als erste benutzen darf, gibt Anlaß zu unablässigem Gezänk, das die persönlichen Unterschiede in Herkunft, Lebenshaltung und Denkweisen, die an spontanen Reaktionen zuweilen noch aufgehen, immer mehr nivelliert. Die Gleichartigkeit der Situation überspielt individuelle Differenzen. Die Personen werden sich erschreckend ähnlich. Eine Beckettsche Situation, die, vielleicht gerade wegen ihrer Alltäglichkeit, etwas Irreales, Unglaubliches hat.
Daß der Regisseur der noch relativ jugendlichen Darsteller im Bush Theatre der vom Autor offenbar sorgsam orchestrierten gedanklichen Konfusion, in den sich vielfach überlagernden fragmentarischen Monologen der drei Alten nicht ganz gewachsen war, so daß die Monotonie ihres Daseins gegen Ende immer monotoner sich mitteilt, spricht kaum gegen die Qualitäten des neuen Stückes, dem man mit großer Besetzung unter einem erfahrenen Regisseur gern wiederbegegnen würde.